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Die Loge

Die Loge

Titel: Die Loge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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sollte. »Lassen wir ihm noch einen Tag Zeit«, sagte er, ohne den Blick von dem verhängten Gerüst zu nehmen. »Ist er bis morgen nachmittag nicht wieder da, darfst du die Restaurierung zu Ende führen.«
    Antonios Freude wurde durch sein unverhohlenes Interesse für die hochgewachsene, schwarzhaarige Schöne gedämpft, die zögerlich das Kirchenschiff entlang auf sie zukam. Sie hatte dunkle Augen und eine kaum zu bändigende Lockenmähne. Tiepolo kannte sich mit Gesichtern aus. Mit Knochenstrukturen. Er hätte sein Honorar für das San-Zaccaria-Projekt darauf verwettet, daß sie Jüdin war. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Er glaubte, sie schon mehrmals in der Kirche gesehen zu haben, wie sie den Restauratoren bei der Arbeit zugesehen hatte.
    Antonio wollte ihr entgegengehen. Tiepolo streckte einen massigen Arm aus, versperrte ihm damit den Weg und rang sich ein gequältes Lächeln ab.
    »Kann ich etwas für Sie tun, Signorina?«
    »Ich suche Francesco Tiepolo.«
    Antonio machte sich enttäuscht davon. Tiepolo legte seine Rechte aufs Herz – Sie haben ihn gefunden, Schätzchen.
    »Ich bin eine Freundin von Mario Delvecchio.«
    Tiepolos flirtender Blick wurde schlagartig kalt. Er verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust und starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Wo zum Teufel steckt er?«
    Die Frau sagte nichts, streckte nur eine Hand aus und gab ihm einen Zettel. Er faltete ihn auseinander und las zwei handgeschriebene Zeilen:
     
    Dein Freund im Vatikan schwebt in großer Gefahr.
    Du mußt mir helfen, ihm das Leben zu retten.
     
    Er hob den Kopf und starrte sie ungläubig an.
    »Wer sind Sie?«
    »Das tut nichts zur Sache, Signor Tiepolo.«
    Seine Pranke hielt den Zettel hoch. »Wo steckt er?«
    »Helfen Sie ihm, das Leben Ihres Freundes zu retten?«
    »Ich werde mir anhören, was Mario zu sagen hat. Befindet mein Freund sich tatsächlich in Gefahr, tue ich natürlich alles, um ihn zu retten.«
    »Dann müssen Sie mitkommen.«
    »Jetzt?«
    »Bitte, Signor Tiepolo. Die Zeit drängt.«
    »Wohin gehen wir?«
    Aber sie faßte ihn nur am Ellbogen und zog ihn mit sich in Richtung Kirchenportal.
    Cannaregio roch nach Salz und der Lagune. Die Frau führte Tiepolo über eine Brücke, die den Rio di Ghetto Nuovo überspannte, und dann ins feuchtkalte Halbdunkel des sottopassaggio. Am anderen Ende der Unterführung tauchte eine Gestalt auf: ein kleiner Mann, der die Hände in den Taschen seiner Lederjacke vergraben hatte und von einem Schein aus gelbem Natriumdampflicht umgeben war. Tiepolo blieb ruckartig stehen.
    »Würdest du mir bitte erklären, was zum Teufel hier vorgeht?«
    »Offenbar hast du meine Mitteilung erhalten.«
    »Die war interessant. Aber du mußt zugeben, daß Details gefehlt haben – und eine entscheidend wichtige Information. Woher willst du – ein Restaurator namens Mario Delvecchio – wissen, daß der Papst in Lebensgefahr schwebt?«
    »Weil die Arbeit als Restaurator für mich nur eine Art Hobby ist. In Wirklichkeit habe ich einen anderen Beruf, von dem nur sehr wenige Leute wissen. Verstehst du, was ich dir zu erklären versuche, Francesco?«
    »Für wen arbeitest du?«
    »Das ist in diesem Zusammenhang unwichtig.«
    »Das ist verdammt wichtig, wenn du willst, daß ich dir helfe, zum Heiligen Vater vorzudringen.«
    »Ich arbeite für einen Geheimdienst. Nicht ständig, sondern nur in Ausnahmefällen.«
    »Zum Beispiel beim Tod eines nahen Angehörigen.«
    »Genau.«
    »Für welchen Dienst arbeitest du also?«
    »Diese Frage möchte ich lieber nicht beantworten.«
    »Das kann ich mir denken, aber wenn ich mit dem Papst reden soll, bist du mir eine Antwort schuldig. Ich wiederhole: Für welchen Dienst arbeitest du? Den SISDE? Den vatikanischen Geheimdienst?«
    »Ich bin kein Italiener, Francesco.«
    »Kein Italiener? Sehr komisch, Mario!«
    »Ich heiße auch nicht Mario.«
    Sie liefen mehrere Runden auf dem weiten Platz, Gabriel und Tiepolo nebeneinander, Chiara einige Schritte hinter ihnen. Tiepolo brauchte lange, um die Informationen zu verarbeiten, die er soeben erhalten hatte. Er war ein intelligenter Mann, ein gebildeter Venezianer mit ausgezeichneten politischen und gesellschaftlichen Verbindungen, aber die Situation, mit der er sich jetzt konfrontiert sah, lag weit außerhalb seines Erfahrungsbereichs. Er fühlte sich, als habe er gerade erfahren, Tizians Altarbild in der Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari sei eine von einem Russen gemalte Kopie. Zuletzt holte er tief

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