Die Loge
zurückkam, hatte der Portier Giancomo noch immer Dienst an der Rezeption. Er legte ihm den Zimmerschlüssel hin, als sei er eine kostbare Reliquie, und erkundigte sich, ob Gabriel gut gespeist habe.
»Ausgezeichnet, danke.«
»Vielleicht möchten Sie morgen abend unseren Speisesaal beehren?«
»Vielleicht«, sagte Gabriel unverbindlich und steckte den Schlüssel ein. »Ich würde gern Benjamins Rechnungen aus der Zeit in Ihrem Haus einsehen – vor allem die Telefonrechnung mit der Aufschlüsselung der Rufnummern. Die könnte nützlich sein.«
»Ja, ich verstehe, Signor Landau, aber ich fürchte, das wäre ein Verstoß gegen den Schutz der Privatsphäre unserer Gäste, zu dem sich unser Haus verpflichtet hat. Ein Mann von Welt wie Sie wird das sicher verstehen.«
Gabriel wies darauf hin, daß Benjamin keine schützenswerte Privatsphäre mehr habe, da er nun tot sei.
»Tut mir leid, aber die Bestimmungen gelten auch für Tote«, sagte der Portier. »Würde die Polizei allerdings solche Informationen verlangen, müßte ich sie herausgeben.«
»Diese Informationen sind mir wichtig«, erklärte Gabriel ihm. »Ich wäre bereit, einen Zuschlag zu bezahlen, um sie zu erhalten.«
»Einen Zuschlag? Ich verstehe.« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ich denke, die Gebühr würde fünfhundert Euro betragen.« Eine Pause, damit Gabriel diese Summe verarbeiten konnte. »Eine Bearbeitungsgebühr. Natürlich im voraus zu entrichten.«
»Ja, natürlich.«
Gabriel zählte die Scheine ab und legte sie auf die Theke. Giancomos Hand wischte über das polierte Holz, dann war das Geld verschwunden.
»Gehen Sie auf Ihr Zimmer, Signor Landau. Ich drucke die Rechnung aus und bringe sie Ihnen.«
Gabriel stieg die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Er verriegelte die Tür von innen, legte die Sicherungskette vor und trat dann ans Fenster, um hinauszusehen. Der See schimmerte im Mondschein. Draußen trieb sich niemand herum – zumindest niemand, den er sehen konnte. Er setzte sich aufs Bett und fing an sich auszuziehen.
Ein Briefumschlag erschien unter der Tür und glitt über den Terrakottaboden. Gabriel hob ihn auf, öffnete die Klappe und zog den Inhalt heraus. Er knipste seine Nachttischlampe an und studierte die Rechnung. Während seines zweitägigen Aufenthalts hatte Benjamin nur drei Telefongespräche geführt. Zweimal hatte er seine eigene Nummer in München gewählt – um den Anrufbeantworter abzufragen, vermutete Gabriel –, einmal eine Nummer in London.
Gabriel griff nach dem Telefonhörer und wählte diese Nummer.
Ein Anrufbeantworter meldete sich.
»Sie sind mit dem Büro von Peter Malone verbunden. Leider bin ich im Augenblick nicht erreichbar. Falls Sie eine Nachricht hinterlassen wollen …«
Gabriel legte den Hörer wieder auf die Gabel.
Peter Malone? Der britische Enthüllungsjournalist? Wozu hätte Benjamin einen Mann wie ihn anrufen sollen? Gabriel faltete die Rechnung zusammen und steckte sie zurück in den Umschlag. Er wollte ihn gerade in Ehud Landaus Aktenkoffer legen, als das Telefon klingelte.
Er streckte eine Hand nach dem Hörer aus, dann zögerte er. Niemand wußte, daß er hier war – niemand außer dem Portier und dem Mann, der ihn vorhin beschattet hatte. Vielleicht hatte Malone die italienische Nummer auf dem Display seines Telefons gelesen und rief jetzt zurück. Lieber informiert als ahnungslos, sagte er sich, riß den Hörer von der Gabel und hielt ihn ans Ohr, ohne sich gleich zu melden.
Schließlich sagte er: »Ja?«
»Mater Vincenza belügt Sie, genau wie sie Ihren Freund belogen hat. Finden Sie Schwester Regina und Martin Luther. Dann wissen Sie, was im Kloster wirklich geschehen ist.«
»Wer sind Sie?«
»Kommen Sie nicht wieder. Hier sind Sie nicht sicher.«
Klick.
9
G RINDELWALD
Der Mann, der in einem luxuriösen Chalet im Schatten des Eigers wohnte, galt selbst nach den strengen Maßstäben der Gebirgsbewohner der Innerschweiz als verschlossen. Er ließ es sich angelegen sein, zu erfahren, was über ihn geredet wurde, und wußte, daß in den Bars und Cafés von Grindelwald ständig über seinen Beruf gerätselt wurde. Manche glaubten, er sei ein erfolgreicher Privatbankier aus Zürich, andere hielten ihn für den Mehrheitsaktionär eines großen Chemieunternehmens mit Sitz in Zug. Und es gab die Theorie, er lebe von ererbtem Reichtum und habe gar nicht selbst Karriere gemacht. Unbegründete Gerüchte wollten wissen, er sei ein Geldwäscher oder Waffenschmuggler. Seine
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