Die Loge
gelitten, vor allem die Kinder.«
»Wie viele?«
»Gewöhnlich rund ein Dutzend. Manchmal mehr. Manchmal weniger.«
»Wieso weniger?«
»Manche sind in andere conventi übergesiedelt. Eine Familie hat versucht, sich in die Schweiz durchzuschlagen. Sie ist im Grenzgebiet von einer Schweizer Streife gestellt und den Deutschen übergeben worden. Ich habe gehört, sie sei in Auschwitz umgekommen. Ich war während des Kriegs natürlich noch ein Kind. Meine Familie hat in Turin gelebt.«
»Für die hier lebenden Schwestern muß das sehr gefährlich gewesen sein.«
»Ja, sehr. Damals haben faschistische Banden auf der Suche nach Juden das Land durchstreift. Belohnungen wurden ausgesetzt. Juden sind für Geld denunziert worden. Wer Juden bei sich verbarg, riskierte schreckliche Vergeltungsmaßnahmen. Die Schwestern haben diese Menschen unter großen Gefahren auch für sich selbst aufgenommen.«
»Warum haben sie es dann getan?«
Mater Vincenza lächelte herzlich und drückte seinen Unterarm. »In unserer Kirche existiert eine große Tradition, Signor Landau. Priester und Nonnen fühlen sich besonders verpflichtet, Flüchtlingen zu helfen. Den unschuldig Verfolgten zu helfen. Die Schwestern von Brenzone haben den Juden aus christlicher Nächstenliebe geholfen. Und sie haben es getan, weil der Heilige Vater entsprechende Anweisungen erteilt hat.«
»Papst Pius XII. hat den Klöstern befohlen, Juden aufzunehmen?«
Die Äbtissin nickte. »In der Tat. Frauenklöster, Männerklöster, Schulen, Krankenhäuser. Der Heilige Vater hat alle kirchlichen Einrichtungen angewiesen, den Juden ihre Türen zu öffnen.«
Der Lichtstrahl von Mater Vincenzas Stablampe fiel auf eine fette Ratte. Ihre Krallen kratzten über die Steine, als sie mit leuchtend gelben Augen forthuschte.
»Danke, Mater Vincenza«, sagte Gabriel. »Ich denke, ich habe genug gesehen.«
»Wie Sie wünschen.« Die Äbtissin verweilte, den festen Blick unbeirrbar auf ihn gerichtet. »Dieser Ort darf Sie nicht betrüben, Signor Landau. Mit Hilfe der Schwestern von Brenzone haben es die Menschen, die hier Zuflucht gefunden haben, geschafft zu überleben. Dies ist kein Ort der Trauer. Es ist ein Ort der Freude. Der Hoffnung.«
Als Gabriel keine Antwort gab, wandte sich Mater Vincenza um und führte ihn die Treppe hinauf zurück. Auf dem Weg über den mit Kies bestreuten Vorhof ließ der Abendwind die Röcke ihrer Ordenstracht rascheln.
»Wir nehmen jetzt gleich unser Abendessen ein. Wenn Sie möchten, können Sie gern daran teilhaben.«
»Sehr freundlich von Ihnen, aber ich möchte nicht stören. Außerdem habe ich Ihre Zeit schon über Gebühr in Anspruch genommen.«
»Oh, keineswegs.«
Am Gittertor blieb Gabriel stehen und drehte sich zu ihr. »Kennen Sie die Namen von Leuten, die hier Zuflucht gefunden haben?« fragte er plötzlich.
Seine Frage schien die Äbtissin zu überraschen. Sie sah ihn einen Augenblick prüfend an, dann schüttelte sie bedächtig den Kopf. »Ihre Namen sind im Lauf der Jahre in Vergessenheit geraten, fürchte ich.«
»Das ist schade.«
»Ja«, sagte sie mit einem langsamen Nicken.
»Darf ich Sie noch etwas fragen, Mater Vincenza?«
»Gewiß.«
»Hat der Vatikan Ihnen die Erlaubnis gegeben, mit Benjamin zu sprechen?«
Sie hob trotzig das Kinn. »Ich brauche keinen Bürokraten aus der Kurie, der mir sagt, wann ich zu reden und wann ich zu schweigen habe. Das kann mir nur mein Gott befehlen, und Gott hat mir befohlen, mit Ihrem Bruder über die Juden von Brenzone zu sprechen.«
Mater Vincenza hatte ein kleines Büro im ersten Stock des Klosters, in einem behaglichen Raum mit Seeblick. Sie schloß die Tür und sperrte sie ab, dann setzte sie sich an ihren schlichten Schreibtisch und zog die oberste Schublade auf. Hinter einer kleinen Schachtel mit Bleistiften und Büroklammern lag ein elegantes kleines Handy versteckt. Theoretisch verstieß der Besitz eines solchen Geräts gegen die strenge Ordensregel, aber der Mann aus dem Vatikan hatte ihr versichert, unter den gegenwärtigen Umständen stelle das keinen Verstoß dar, weder moralisch noch anderweitig.
Sie schaltete das Handy ein, genau wie er es ihr gezeigt hatte, und tippte konzentriert die römische Nummer ein. Nach einigen Sekunden Stille konnte sie ein Telefonläuten hören. Das überraschte sie. Als sich im nächsten Augenblick eine Männerstimme meldete, überraschte sie das noch mehr.
»Hier ist Mater Vincenza …«
»Ich weiß, wer Sie sind«, erwiderte der Mann
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