Die Loge
Geräusch auf den asphaltierten Wegen. Es war wie neben einem Gespenst zu laufen.
Sein Wagen war in der übernächsten Straße geparkt. Ben-Awraham setzte sich ans Steuer und fuhr zwanzig Minuten lang kreuz und quer durch die Innenstadt. Der Stationschef hatte recht: Dieser Besucher war kein Mann, mit dem man schwatzen konnte. Er machte überhaupt nur einmal den Mund auf – als er Ben-Awraham höflich bat, nicht zu rauchen. Er sprach deutsch mit der präzisen Diktion eines Berliners.
Als Ben-Awraham sicher wußte, daß sie nicht beschattet wurden, bog er im Nordosten Wiens in die Anton-Frank-Gasse ab. Das Haus Nummer 20 dieser Gasse war im Lauf der Jahre das Ziel vieler Terrorangriffe gewesen und daher schwer befestigt. Außerdem wurde es Tag und Nacht von österreichischen Sicherheitskräften überwacht. Als der Wagen die Rampe zur Tiefgarage erreichte, verschwand der legendenumwobene Agent im Fußraum des Beifahrersitzes. Dabei blieb sein Kopf einen Augenblick lang leicht gegen Ben-Awrahams Bein gedrückt. Seine Kopfhaut brannte wie die eines Mannes im Griff eines tödlichen Fiebers.
Die abhörsichere Nachrichtenzentrale war in einem schalldichten Glaswürfel zwei Stockwerke unter der Erde untergebracht. Die Vermittlung in Tel Aviv brauchte zwei Minuten, um das Gespräch in Schamrons Villa in Tiberias durchzustellen. Das Rattern einer Küchenmaschine übertönte seine Stimme. Im Hintergrund konnte Gabriel in ein Becken einlaufendes Wasser und das Klirren von Besteck hören. Er konnte sich fast bildlich vorstellen, wie Schamrons bewundernswert geduldige Frau Geulah beim Abwasch in der Küche stand. Gabriel erstattete Schamron denselben Bericht wie zuvor Lavon. Als er fertig war, fragte Schamron ihn, was er als nächstes vorhabe.
»Ich dachte, ich reise nach London und frage Peter Malone, weshalb ihn Beni aus einem Hotel in Brenzone angerufen hat.«
»Malone? Wie kommst du darauf, daß er reden wird? Peter Malone kennt nur seinen eigenen Vorteil. Weiß er tatsächlich etwas, hütet er sein Wissen noch eifersüchtiger, als es der arme Beni getan hätte.«
»Ich bin dabei, mir eine subtile Art der Annäherung zu überlegen.«
»Und wenn er kein Interesse hat, sein Notizbuch für dich zu öffnen?«
»Dann versuche ich es mit einer weniger subtilen Methode.«
»Ich traue ihm nicht.«
»Er ist die einzige Fährte, die ich im Augenblick habe.«
Schamron seufzte schwer. Trotz der großen Entfernung und der Küchenmaschine konnte Gabriel ein scharfes Rasseln in seiner Brust hören.
»Ich verlange, daß dieser Treff ordentlich abläuft«, sagte Schamron. »Du darfst nicht wieder blind und ohne Verstärkung in eine Situation hineinstolpern. Er wird vorher und nachher überwacht. Sonst kannst du gleich mit dieser Sache aufhören und nach Venedig zurückkehren, um deinen Bellini fertigzustellen.«
»Wenn du darauf bestehst.«
»Nützliche Vorschläge sind nicht meine Art. Ich verständige sofort die Londoner Station und setze einen Mann auf ihn an. Halt mich auf dem laufenden.«
Gabriel legte den Hörer auf und trat auf den Flur hinaus. Dort wartete Ephraim Ben-Awraham. »Wohin jetzt?« fragte der junge Agent.
Gabriel sah auf seine Uhr. »Bringen Sie mich zum Flughafen.«
13
L ONDON
An seinem zweiten Tag in London betrat Gabriel in der Abenddämmerung ein Antiquariat in der Charing Cross Road und kaufte ein einzelnes Buch. Er klemmte es sich unter den Arm und ging bis zum U-Bahnhof Leicester Square. Am Eingang entfernte er den abgegriffenen Schutzumschlag und warf ihn in einen Abfallbehälter. Im Bahnhofsgebäude kaufte er an einem der Automaten eine Fahrkarte und fuhr die lange Rolltreppe zum Bahnsteig der Northern Line hinunter, auf dem er die obligatorischen zehn Minuten warten mußte. Er nutzte diese Zeit, um das Buch durchzublättern. Als er auf die Stelle stieß, die er gesucht hatte, umkringelte er sie mit Kugelschreiber und knickte die obere Ecke der Seite ein, um sie rasch wiederfinden zu können.
Endlich kam die U-Bahn in die Station gerumpelt. Gabriel quetschte sich in den überfüllten Wagen und schlang einen Arm um eine Metallstange. Er wollte zum Sloane Square, was bedeutete, daß er am Embankment umsteigen mußte. Als der Zug ruckelnd anfuhr, sah Gabriel auf den Buchrücken hinunter. PETER MALONE stand dort in verblaßter Goldschrift, und daneben DIE IRREFÜHRER.
Malone war einer der meistgehaßten Männer Londons. Enthüller von persönlichen und professionellen Untaten, Zerstörer von
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