Die Loge
Dies hier ist natürlich eine Fotokopie.«
Er griff wieder nach dem Schriftstück. »Die Besprechung fand am 20. Januar 1942 in einer Villa am Berliner Wannsee statt. Sie hatte fünfzehn Teilnehmer und dauerte eineinhalb Stunden. Eichmann, der als Gastgeber auftrat, sorgte dafür, daß seine Gäste gut verpflegt wurden. Heydrich fungierte als Zeremonienmeister. Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Meinung war die Wannsee-Konferenz nicht der Ort, an dem die Endlösung ausgeheckt wurde. Hitler und Himmler hatten bereits beschlossen, die Juden Europas auszurotten. Die Wannsee-Konferenz war vielmehr eine bürokratische Planungssitzung, eine Diskussion darüber, wie verschiedene Partei- und Regierungsstellen zusammenarbeiten könnten, um den Holocaust Wirklichkeit werden zu lassen.«
Lavon legte Gabriel nochmals das Schriftstück hin. »Sieh dir die Teilnehmerliste an. Erkennst du einen dieser Namen?«
Gabriel überflog die Liste der Teilnehmer:
Gauleiter Dr. Meyer und Reichsamtsleiter Dr. Leibrandt, Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete
Staatssekretär Dr. Stuckart, Reichsministerium des Inneren
Staatssekretär Neumann, Beauftragter für den Vierjahresplan
Staatssekretär Dr. Freisler, Reichsjustizministerium
Staatssekretär Dr. Bühler, Amt des Generalgouverneurs
Unterstaatssekretär Luther, Auswärtiges Amt
Gabriel sah zu Lavon auf. »Luther war mit am Wannsee?«
»Allerdings war er das. Und er hat dort bekommen, was er sich so verzweifelt wünschte. Heydrich hat entschieden, das Auswärtige Amt solle eine wichtige Rolle bei der praktischen Durchführung von Deportationen aus den mit Deutschland verbündeten Staaten und deutschen Satellitenstaaten wie Kroatien und der Slowakei spielen.«
»Ich dachte, die Deportationen seien von der SS durchgeführt worden.«
»Laß mich kurz zurückgehen.« Lavon beugte sich über den Couchtisch und legte beide Hände darauf, als sei er eine Europakarte. »Die weitaus meisten Holocaust-Opfer stammten aus Polen, dem Baltikum und Westrußland – aus von den Deutschen eroberten und direkt beherrschten Gebieten. Dort konnten sie die Juden zusammentreiben und nach Belieben abschlachten, ohne die Einmischung anderer Regierungen befürchten zu müssen, weil es keine anderen Regierungen gab.«
Lavon machte eine Pause und ließ eine Hand auf der imaginären Europakarte nach Westen gleiten, während die andere nach Süden glitt. »Aber Heydrich und Eichmann genügte es nicht, nur die im direkten deutschen Einflußbereich lebenden Juden zu ermorden. Sie wollten alle Juden Europas liquidieren – insgesamt elf Millionen Menschen.« Lavon tippte mit dem rechten Zeigefinger auf die Tischplatte. »Die Juden auf dem Balkan …«, er tippte mit dem linken Zeigefinger auf den Tisch, »… und die Juden in Westeuropa. In den meisten dieser Staaten mußten sie mit den dortigen Regierungen verhandeln, um die Juden zur Deportation und Vernichtung aussondern zu können. Dafür war Luthers Abteilung des Auswärtigen Amts zuständig. Luther hatte die Aufgabe, mit den jeweiligen Regierungen auf ministerieller Ebene zu verhandeln und sicherzustellen, daß die Deportationen unter Einhaltung aller diplomatischen Gepflogenheiten glatt abliefen. Und er hat seine Sache verdammt gut gemacht.«
»Schön, nehmen wir mal an, der Alte hat tatsächlich diesen Martin Luther gemeint. Was hätte der in einem Kloster in Oberitalien zu suchen gehabt?«
Lavon zuckte mit seinen schmalen Schultern. »Ich glaube, der Alte hat versucht, dir zu erzählen, daß sich während des Kriegs im Kloster irgendwas ereignet hat. Etwas, das Mater Vincenza zu vertuschen versucht. Etwas, von dem Beni gewußt hat.«
»Etwas, das ihm den Tod gebracht hat?«
Wieder ein Schulterzucken. »Vielleicht.«
»Wer wäre bereit, einen Mann wegen eines Buchs zu ermorden?«
Lavon zögerte einen Augenblick, während er das Protokoll der Wannsee-Konferenz in die Mappe zurücklegte. Dann sah er mit zusammengekniffenen Augen zu Gabriel auf und holte tief Luft, bevor er sprach.
»Es gab vor allem eine Regierung, die Eichmann und Luther Sorgen bereitete. Im Zweiten Weltkrieg unterhielt sie diplomatische Beziehungen zu den Alliierten und zu Hitlerdeutschland. Sie hatte Vertreter in allen Staaten, in denen Juden zusammengetrieben und deportiert wurden – Vertreter, die diese Aufgabe sehr hätten erschweren können, wenn sie sich entschlossen hätten, nachdrücklich zu intervenieren. Aus offenkundigen Gründen hielten es
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