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Die Loge

Die Loge

Titel: Die Loge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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katholischen Kirche vom Zaun zu brechen. Vielleicht war dies auch nicht der beste Augenblick, in trüben Gewässern zu waten. Das Wasser war schmutzig und voller unsichtbarer Gefahren, Klüfte und Felsen, voller Schlingpflanzen, in denen man sich verfangen und ertrinken konnte.
    Und dann erschien vor seinem inneren Auge ein Bild. Eine schlammige Dorfstraße, irgendwo bei Krakau. Eine tobende Menge. Eingeschlagene Schaufenster. Angezündete Häuser. Mit Knüppeln blutig geschlagene Männer. Vergewaltigte Frauen. Christusmörder! Jüdischer Abschaum! Erschlagt die Juden! Erlebnisse eines Kindes, Kindheitserinnerungen an Polen. Der Junge würde nach Palästina geschickt werden, um bei Verwandten in Obergaliläa zu leben. Seine Eltern würden zurückbleiben. Der Junge würde sich der Hagana anschließen und im Krieg um die Wiedergeburt Israels mitkämpfen. Und als der neue Staat einen Geheimdienst aufbaute, würde der Junge, inzwischen ein junger Mann, zur Mitarbeit aufgefordert werden. In einem heruntergekommenen Vorort von Buenos Aires würde er zu einer fast mythischen Gestalt werden, indem er dem Mann, der seine Eltern und sechs Millionen weitere Juden in die Todeslager geschickt hatte, an den Kragen ging.
    Schamron merkte, daß er die Augen krampfhaft zusammenkniff und mit den Händen das Terrassengeländer umklammerte. Er löste den Klammergriff, Finger für Finger.
    Eine Gedichtzeile von Eliot ging ihm durch den Kopf: »In meinem Anfang liegt mein Ende.«
    Eichmann …
    Wie war es diesem Drahtzieher des Todes, diesem mordenden Bürokraten, der dafür gesorgt hatte, daß die Züge in die Vernichtungslager pünktlich verkehrten – wie war es ihm gelungen, unauffällig in einem Arbeitervorort von Buenos Aires zu leben, wenn sechs Millionen Juden ermordet worden waren? Die Antwort auf diese Frage kannte Schamron natürlich, denn jedes Blatt der Akte Eichmann hatte sich ihm unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt. Wie Hunderte anderer Mörder war Eichmann über die »Klosterroute« entkommen – eine Kette von Klöstern und kirchlichen Einrichtungen, die sich von Deutschland bis zur italienischen Hafenstadt Genua erstreckte. In Genua hatte er Schutz bei Franziskanern gefunden und dank kirchlicher Wohltätigkeitsorganisationen falsche Papiere erhalten, die ihn als Flüchtling auswiesen. Am 14. Juni 1950 verließ er das Franziskanerkloster, um sich an Bord der Giovanna C nach Buenos Aires einzuschiffen.
    Um in der Neuen Welt ein neues Leben zu beginnen, sagte sich Schamron. Das Oberhaupt der katholischen Kirche hatte keine Worte gesucht, um die Ermordung von sechs Millionen Menschen zu verdammen, aber seine Bischöfe und Priester hatten dem größten Massenmörder, der je gelebt hatte, Trost und Zuflucht gewährt. Das war eine Tatsache, die Schamron nicht begreifen konnte – eine Sünde, von der es keine Absolution geben konnte.
    Er dachte an Levs Stimme, die ihn über die abhörsichere Verbindung aus Tel Aviv angekreischt hatte. Nein, dachte Schamron, ich werde Lev nicht helfen, Gabriel zu finden. Er würde Gabriel im Gegenteil dabei unterstützen, die damaligen Ereignisse in dem Kloster am See aufzuklären – und Benjamin Sterns Mörder zu finden.
    Sein Schritt war fest und sicher, als er ins Haus zurückging und ins Schlafzimmer trat. Geulah lag im Bett und hatte den Fernseher eingeschaltet. Schamron packte seinen Koffer. Immer wieder sah sie zu ihm hinüber, sagte aber kein Wort. So war es seit über vierzig Jahren immer gewesen. Als er gepackt hatte, setzte sich Schamron auf die Bettkante und ergriff ihre Hand.
    »Versprichst du mir, vorsichtig zu sein, Ari?«
    »Natürlich, mein Herz.«
    »Du rauchst keine Zigaretten, oder?«
    »Niemals!«
    »Komm bald wieder nach Hause.«
    »Bald«, sagte Schamron und küßte sie auf die Stirn.
    Seine Besuche am King Saul Boulevard waren mit Kränkungen verbunden, die Schamron als zutiefst deprimierend empfand. An der Sicherheitstheke in der Eingangshalle mußte er sich ins Besucherbuch eintragen und einen laminierten Ausweis an seiner Hemdtasche befestigen. Seinen alten Privataufzug konnte er nicht mehr benützen – der war jetzt für Lev reserviert. Statt dessen mußte er sich in einen gewöhnlichen Aufzug zwängen, in dem sich außer altgedienten Bürokraten auch junge Männer und Frauen aus der Registratur drängten.
    Er fuhr in den dritten Stock hinauf. Seine rituelle Demütigung war damit jedoch noch nicht zu Ende, denn Lev beanspruchte ein paar weitere Unzen

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