Die Loge
aus, um Gabriel zuzuwinken und auf der Beifahrerseite einzusteigen. Gabriel ging von Bord, schlenderte die Pier entlang und setzte sich ans Steuer.
»Irgendwelche Probleme?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Wir brauchen Klamotten.«
»Ah, ein Einkaufsbummel über die Croisette! Genau das, was ich nach einer Nacht und dem halben Tag auf dem verdammten Boot brauche. Dabei kann ich mich nie zwischen Gucci und Versace entscheiden!«
»Ich dachte an etwas Gewöhnlicheres. Vielleicht an einen der netten Läden am Boulevard Carnot, wo normale Leute ihre Sachen kaufen.«
»Oh, wie bürgerlich!«
»Genau.«
Gabriel durchquerte die Altstadt, und wenige Minuten später waren sie auf dem Boulevard Carnot, der Hauptverkehrsader zwischen der Hafenstadt und den Ortschaften im Hinterland, nach Norden unterwegs. Der Mistral heulte so stark, daß nur wenige Fußgänger auf der Straße waren. Nach vorn gebeugt und mit einer Hand ihre Mützen festhaltend, kämpften sie gegen den Sturm an. Die Luft war voller Staub und hochgewirbelter Papierfetzen. Einige Straßen weiter entdeckte Gabriel hinter einer Bushaltestelle eine kleine Filiale einer Kaufhauskette. Chiara runzelte die Stirn. Er suchte einen Parkplatz, drückte ihr einen Packen Geldscheine in die Hand und wiederholte, welche Größen er brauchte. Chiara stieg aus und ging die restliche Strecke zu Fuß.
Gabriel ließ den Motor laufen und hörte die Nachrichten im Radio. Noch immer keine Spur von dem mutmaßlichen Papstattentäter. Die italienische Polizei hatte die Kontrollen auf Flughäfen und an Grenzübergängen nochmals verstärkt. Er schaltete das Radio aus.
Zwanzig Minuten später trat Chiara mit zwei prallvollen Tragetaschen in den Händen aus dem Kaufhaus. Sie hatte Rückenwind, der ihr das Haar nach vorn ins Gesicht blies.
Sie warf die Tüten auf den Rücksitz und stieg ein. Gabriel fuhr weiter den Boulevard Carnot entlang. Nach zehn Minuten erreichte er einen großen Verkehrskreisel, an dem er den Schildern nach Grasse folgte. Vor ihnen lag eine vierspurige Schnellstraße, die in die Vorberge der Seealpen hinaufführte. Chiara stellte die Rückenlehne zurück, zog ihre Vliesjacke aus und schlängelte sich aus ihrer schweren wasserdichten Hose. Gabriel hielt den Blick auf die Fahrbahn gerichtet. Sie wühlte in den Tragetaschen, bis sie die frische Unterwäsche und die anderen Sachen fand, die sie für sich gekauft hatte.
»Nicht schauen.«
»Das täte ich nie.«
»Wirklich? Warum nicht?«
»Beeilen Sie sich und ziehen Sie sich schnell etwas an!«
»Das ist das erste Mal, daß ein Mann so etwas zu mir sagt.«
»Ich verstehe, warum.«
Sie boxte ihn gegen den Oberarm, dann zog sie rasch die Jeans, einen dicken Rollkragenpullover und modische schwarze Lederstiefel mit quadratischen Kappen und Blockabsätzen an. So sah sie wieder wie die attraktive junge Frau aus, die er im Ghetto von Venedig kennengelernt hatte. Als sie fertig war, setzte sie sich auf. »Jetzt sind Sie an der Reihe. Halten Sie auf dem nächsten Rastplatz, dann fahre ich weiter, während Sie sich umziehen.«
Gabriel tat wie befohlen. Rein modisch schnitt er weniger gut ab: weite blaue Baumwollhose mit Gummizug, schwarzer Troyer, ein Paar beige Stoffschuhe, die an den Füßen kratzten. So sah er wie ein Faulenzer aus, der seine Tage damit verbringt, auf dem Dorfplatz boule zu spielen.
»Ich komme mir lächerlich vor.«
»Ich finde, Sie sehen sehr gut aus. Noch wichtiger ist, daß Sie so durch jede provenzalische Kleinstadt schlendern können und von jedermann für einen Einheimischen gehalten werden.«
Chiara blieb noch eine Viertelstunde auf der kurvenreichen Straße, die zwischen Oliven- und Eukalyptushainen verlief. Dann erreichten sie die mittelalterliche Stadt Valbonne. Gabriel dirigierte sie nach Norden, zur Kleinstadt Opio, und von Opio nach Le Rouret. Sie parkte vor einem tabac und wartete im Auto, während Gabriel hineinging. Hinter dem Ladentisch stand ein Mann mit krausem Haar und dem dunklen Teint eines Algeriers. Als Gabriel ihn fragte, ob er eine Italienerin namens Carcassi kenne, zuckte der Verkäufer mit den Schultern und empfahl ihm, sich bei Marc, dem Barkeeper nebenan in der brasserie, zu erkundigen.
Marc war damit beschäftigt, mit einem schmuddeligen Geschirrtuch Gläser zu polieren. Als Gabriel ihm seine Frage stellte, schüttelte der Barkeeper den Kopf. Er kannte niemanden, der Carcassi hieß, aber eine Italienerin, die an der zum Nationalpark führenden
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