Die Loge
Trotzdem durfte er Allon diesmal nicht ungehindert entkommen lassen, weshalb er Asiz widerstrebend anwies, die Verfolgung aufzunehmen. Der Palästinenser schaltete herunter, gab Vollgas und bemühte sich, dranzubleiben.
Zwei Minuten später wurde der Lancia plötzlich von gleißend hellem Xenonlicht ausgeleuchtet. Lange warf einen Blick über die Schulter und sah die unverkennbaren Scheinwerfer eines Mercedes nur eine Handbreit von ihrer Stoßstange entfernt. Der Mercedes schob sich nach vorn, bis sich sein rechter vorderer Kotflügel auf gleicher Höhe mit dem linken hinteren des Lancias befand.
Lange hielt sich am Beifahrerhandgriff fest. Der Mercedesfahrer gab Gas und riß dabei das Steuer nach rechts. Der Lancia wurde von dem Aufprall heftig erschüttert und begann im Uhrzeigersinn zu kreiseln, als Asiz beim Gegensteuern überreagierte. Der Palästinenser schrie laut auf. Lange klammerte sich an der Armlehne fest und wartete darauf, daß sich ihr Wagen überschlagen würde.
Aber es passierte nichts. Nach einer kleinen Ewigkeit kam der Lancia entgegengesetzt zu ihrer ursprünglichen Fahrtrichtung zum Stehen. Lange drehte sich rasch um, sah durchs Heckfenster und konnte gerade noch beobachten, wie der Transporter und der Mercedes über die Hügelkuppe verschwanden.
Eineinhalb Stunden später hielt der Lieferwagen auf einem Parkplatz über einer windgepeitschten kleinen Bucht. Das schrille Pfeifen der Triebwerke eines aus dem dunklen Nachthimmel herabsinkenden Jumbos bewies, daß sie sich in der Anflugsschneise des stark frequentierten römischen Flughafens Leonardo da Vinci befanden. Chiara stieg aus und ging zum Wasser hinunter, um zu kontrollieren, ob sie die Bucht für sich allein hatten. Starke Böen ließen den Transporter schwanken. Zwei Minuten später steckte sie den Kopf zur Seitentür herein und nickte. Pazner schüttelte Gabriel die Hand und wünschte ihm alles Gute. Dann wandte er sich an Chiara. »Wir warten hier. Beeilen Sie sich.«
Gabriel folgte ihr über den steinigen Strand. Sie fanden das Boot, ein viereinhalb Meter langes Zodiac-Schlauchboot, und zogen es in die eiskalte Brandung. Der Außenbordmotor sprang sofort an. Während Chiara das Boot, dessen stumpfer Bug in regelmäßigen Abständen in die vom Sturm aufgewühlte See klatschte, aufs Meer hinaussteuerte, beobachtete Gabriel, wie die Küste hinter ihnen zurückblieb und die Lichter an Land immer schwächer wurden. Italien, ein Land, das er liebte, das ihm nach dem Unternehmen »Zorn Gottes« Frieden geschenkt hatte – er fragte sich, ob er jemals die Erlaubnis erhalten würde, dorthin zurückzukehren.
Chiara zog ein Handfunkgerät aus der Innentasche ihrer gelben Jacke, murmelte ein paar Worte hinein und ließ die Sprechtaste los. Sekunden später blendeten die Positionslichter einer Motorjacht auf. »Dort vorn«, sagte sie und deutete nach Steuerbord voraus. »Da liegt Ihre Heimfahrgelegenheit.«
Sie änderte den Kurs, drehte auf und jagte über die mit weißen Schaumkronen bedeckte See auf das wartende Schiff zu. Fünfzig Meter von der Jacht entfernt, schaltete sie den Motor aus, und das Boot trieb lautlos auf das Heck der Jacht zu. Dabei sah sie Gabriel zum ersten Mal ins Gesicht.
»Ich komme mit.«
»Was soll das heißen?«
»Ich komme mit«, wiederholte sie lediglich.
»Ich bin nach Israel unterwegs.«
»Nein, das sind Sie nicht. Sie wollen in die Provence, um Regina Carcassis Tochter zu finden. Und ich komme mit.«
»Sie bringen mich an Bord dieser Jacht, dann fahren Sie zurück.«
»Selbst mit diesem kanadischen Paß können Sie sich in Europa kaum bewegen. Sie können kein Auto mieten, kein Flugticket kaufen. Sie brauchen mich. Und was ist, wenn Pazner gelogen hat? Wenn an Bord der Jacht zwei Männer statt nur einem sind?«
Gabriel mußte zugeben, daß sie nicht ganz unrecht hatte.
»Sie machen einen großen Fehler, Chiara. Damit zerstören Sie Ihre Karriere.«
»Nein, das tue ich nicht«, widersprach sie. »Ich behaupte einfach, Sie hätten mich gegen meinen Willen gezwungen, mitzukommen.«
Gabriel sah zu der Motorjacht auf. Sie wurde allmählich größer. Er mußte zugeben, daß Chiara den idealen Zeitpunkt für ihre überraschende Ankündigung gewählt hatte.
»Warum?« fragte er. »Weshalb wollen Sie sich das antun?«
»Hat mein Vater Ihnen erzählt, daß seine Großeltern unter den alten Juden waren, die aus dem Heim im Ghetto geholt und nach Auschwitz transportiert wurden? Hat er Ihnen erzählt, daß sie
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