Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
Vom Netzwerk:
wenn man sich mit psychiatrisch psychopathologischen Phänomenen aus evolutionärer Perspektive beschäftigt. Zum einen besteht diese Versuchung darin, jedes psychische oder psychopathologische Phänomen auf seine evolutionäre Angepasstheit zu untersuchen und Diagnoseeinheiten als Adaptionsbündel anzusehen. Dies ist die Gefahr eines evolutionstheoretisch ausgelenkten, übermotivierten, hyperadaptionistischen Verstehens. Die Depression soll es dann in einer solchen Sichtweise deshalb geben, weil alle Symptome für sich genommen oder im Symptombündel zusammen einen adaptiven Wert besitzen. So werden dann seltsame Überlegungen angestellt, welchen adaptiven Wert der von den Betroffenen in der Depression leider manchmal durchgeführte Suizid haben könnte. Beispielsweise
wurde gemutmaßt, dass er eine genaltruistische Geste sein könnte. Bei manchen Insektenarten ist ein solches »Opfer« bekannt, bei den Primaten, bei denen es bei einer evolutionären Erklärung zur Evidenzstärkung ein solches Verhalten geben müsste, ist Suizid allerdings noch nie beobachtet worden. Andere sehen sogar im »Suizid« von Bombenattentätern die Erfüllung genegoistischer Interessen. Welches Verhalten in der menschlichen evolutionären Entwicklung hier Pate gestanden haben soll, bleibt allerdings unbeantwortet.
    Dass die Menschen evolutionär entstanden so emotional wurden, dass manche Emotionen einfach unerträglich sind und der Suizid von diesen erlöst, ist doch die viel wahrscheinlichere Interpretation als eine evolutionäre Erklärung, die den Suizid als genetischen Fitnessmaximierungsversuch ansieht. Wenn man die Frage beantworten möchte, von welchem Entwicklungspunkt an eigentlich die Menschwerdung im Primaten-Menschen-Übergangsfeld einsetzt, so ist dies nicht die Fähigkeit zum aufrechten Gang, nicht der Wirk- oder Werkzeuggebrauch, wie die Paläoanthropologie den Beginn der Menschheit definiert, es ist etwas anderes. Nämlich die Suizidfähigkeit. Erst ein Gehirn, das im abstrakten Denken und im subjektiven emotionalen Empfinden so empfänglich für die Welt und ihre sozialen Abläufe wurde, dass Unerträglichkeitswellen sich in ihm zu einem Tsunami hochschaukeln konnten, der den evolutionär tief verankerten Überlebenswillen selbst fortzureißen vermochte, verdient die Bezeichnung »menschlich«. Der erste Suizidversuch markiert den Beginn unserer Art. Paläoanthropologische Spuren für seine zeitliche Datierung werden sich leider niemals finden lassen.
    Natürlich ist das Gehirn ein evolutionär erwachsenes Organ, dennoch ist nicht alles, was in ihm geschieht, von adaptiver Bedeutung. Nicht alles, was wir bei den psychopathologischen Veränderungen beobachten, ist eine Demaskierung evolutionär erworbener Kompetenzen. Richtig ist aber auch, dass diese evolutionär erworbenen Kompetenzen in manchen Krankheitsbildern unmittelbar zur Anschauung kommen. Aber bei welchem Phänomen trifft das eine zu und bei welchem das andere? Wann ist eine evolutionäre Interpretation eines Symptoms noch schlüssig und wann ist sie überzogen spekulativ?

    Zudem besteht bei der evolutionären Interpretation menschlicher Psychopathologie die Gefahr, dass durch eine übergenaue evolutionäre Analyse die Krankheitseinheiten der aktuellen Psychiatrie so weit zerstückelt würden, dass man sich wieder in der Situation der präkraepelinschen Zeit mit ihren unpräzisen Beliebigkeitsdiagnosen und dem Krankheitsflickenteppich befinden würde. Es gibt kein Diagnosezurück mehr, jedenfalls nicht bei der gegenwärtigen Entwicklungsrichtung der Psychiatrie. Die Zerstückelung der Diagnosen mit einem mehr oder weniger scharfen evolutionären Interpretationsmesser wäre darüber hinaus auch so langweilig, dass ein Buch, welches sich an diesem Thema abmühte, vermutlich gar nicht lesbar wäre.
    Die zweite Gefahr besteht darin, die Diagnosen und das nosologische Wissen der Psychiatrie ganz aufzugeben und dann eine durchaus zutreffende Theorie vorzulegen, die aber so weit vom psychiatrischen Denkalltag entfernt ist, dass sie aus dem Fachgebiet heraus weder für die dort stehenden Professionellen noch für die Patienten oder die Angehörigen verständlich erscheint. 69
    Wir bleiben bei unserem Ansatz, der besagt, dass Psychopathologien vornehmlich eigentlich gesunde Alarmfunktionsweisen des Gehirns darstellen, die allerdings unangemessen überwertig werden und die Freiheitsgrade des betroffenen Individuums aufgrund der Binnenvolumenreduktion empfindlich

Weitere Kostenlose Bücher