Die Logik des Verruecktseins
Erkenntnisse in vielen Teilen revidiert werden mussten, kann man ohne Übertreibung sagen, dass letztlich alle psychiatrischen Klassifikationsversuche, auch die modernen wie die ICD 10 und DSM IV, sowie das klinische Forschungsbemühen in seiner Systematik auf Kraepelin zurückgehen. Er gab der Fachwelt einen brauchbaren Seelenstadtplan, aber dieser ist notgedrungen weit davon entfernt, das Leben der Menschen-Stadt und ihre Baustellen abzubilden.
Kraepelin ist auch für einen erheblichen Denkfehler in der Psychiatrie verantwortlich, der bis heute in weiten Teilen anhält. Er war der festen Überzeugung, dass hinter seinen Syndromen Krankheitsentitäten stünden, die eines Tages durch die medizinisch-wissenschaftliche Forschung gefunden werden könnten. Verschiedene »Krankheiten« würden von verschiedenen hirnpathologischen Prozessen verursacht und seien untereinander als etwas vollkommen Getrenntes anzusehen. Ähnlich wie bei Freud mit seinem psychischen Apparat geschehen, hat sich die Psychiatrie in den letzten hundertzehn Jahren diese Geschichte der zu suchenden und bis zu ihrer Auffindung postulierten Krankheitsentitäten so oft gegenseitig erzählt, dass sie heute tatsächlich an diese Entitäten glaubt und wie besessen nach den spezifischen
Krankheitsursachen sucht. Dass man diese immer noch nicht gefunden hat, treibt die Sucher eher weiter an - anstatt zu überlegen, ob der Ansatz überhaupt richtig ist. 68
Zwischen alten Konzepten und neuen Suchrichtungen
Und damit stehen wir in unserer weiter zu betreibenden Seelenlabyrintherkundung vor einem großen Problem. Wir treffen bei unserer Erkundung auf Phänomene menschlichen Seins, betrachtet vor einem evolutionären Hintergrund, und auf Erlebnis- und Handlungsweisen, die wir beschreiben und in prägnanten Worten zusammenfassen müssen. Es gibt keine andere Möglichkeit, als sich dazu der Fachsprache der Psychiatrie und ihrem Krankheitskonzept, so weit es nützlich ist, zu bedienen.
Und zwar deshalb, weil beide das Denken aller psychiatrisch arbeitenden Menschen, zu denen ich ja auch gehöre, prägen. Wo Rechtsverkehr im Straßenverkehr eingeführt ist, da kann man nicht einfach den Linksverkehr propagieren, selbst wenn das noch so berechtigt wäre. Zum anderen können wir uns nicht ziellos und ohne jegliche klassische Orientierungshilfe einfach bei Tag und bei Nacht durch die Stadt Wien treiben lassen, so schön das auch wäre und so gern wir das täten: Wir verlören uns in Einzelheiten und Oberflächlichkeiten. Wir können auch nicht für alles eigene Worte erfinden, sonst geht es uns wie dem traurigen Helden in der Geschichte von Peter Bichsel »Ein Tisch ist ein Tisch«, der aus Langeweile und Einsamkeit alle Dinge mit neuen Begriffen belegt, indem er die Dinge umbenennt: »Zum Tisch sage ich Bett und zum Bett sage ich Stuhl …«, was ihm viel Freude macht, allerdings versteht ihn dann keiner mehr und er ist noch einsamer als zuvor.
Staubtrockene Seelenstadtplanbeschreibung, wie sie die Diagnosemanuale und auch viele Lehrbücher mit ihren operationalisierbaren Symptomlisten vorgeben, wollen wir aber auch nicht betreiben. Wir müssen uns einpendeln zwischen dem Seelenstadtplan der gängigen psychiatrischen Krankheitslehre und Diagnosemerkmalen auf
der einen und dem trubeligen, bunten, aufregenden, aber auch gefährlichen Leben in der realen Stadt auf der anderen Seite.
Auch wenn wir nach der ersten Hälfte des Buches mit unserem Seelenlabyrinth an ganz andere Seelenstrukturen glauben als die aktuelle Psychiatrie dies tut, können wir auf deren Sprachgebrauch und ihre nosologischen Vorstellungen nicht ganz verzichten. Alles andere wäre auch vermessen. Hier soll ja keine neue Psychiatrietheorie erfunden, sondern die bestehende bereichert werden.
Wie Seelentouristen halten wir allerdings die eigenen Augen bei der Stadterkundung offen und schließen uns keiner der gängigen professionellen Stadtführungen an, tragen aber auch den reduktionistisch, klassisch psychiatrischen Stadtplan in der Tasche sowie weiterhin unseren evolutionären Kompass. Einmal wird das Pendel mehr nach hier ausschlagen und einmal mehr nach da. Auf unserem Weg der Stadtseelenlandschaftserkundung werden wir Informationen und Eindrücke sammeln, die uns helfen, das Seelenlabyrinth und seine Struktur weiter auszuleuchten und zu erhellen.
Evolutionäre Interpretation menschlicher Psychopathologie und ihre Abwege
Hierdurch vermeiden wir zwei Versuchungen, denen man ausgesetzt ist,
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