Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
Vom Netzwerk:
einschränken. Menschliche Psychopathologien sind in ihrem Wesenskern Verdichtungszitate der anthropologischen Matrix. Das Seelenlabyrinth selbst, zumindest wenn es uns gelingt, in der Folge dieses ganz in seinem Aufbau und in seiner gesunden Funktionalität zu verstehen, ist evolutionär erwachsen und differenziert worden und gibt, wie wir bereits sehen konnten, Aufschluss darüber, wie Gesundheit und Krankheit funktionieren und untrennbar zusammengehören. Es hat uns auch geholfen, nicht nur die »Krankheit versus Gesundheit«-Dichotomie endlich beiseitezulassen, es hat uns auch ermöglicht, das Bezugsrätsel von reaktiven, endogenen, neurotischen, körperlich begründbaren und exogenen Ursachen der Psychopathologien integrativ denken zu können. Und es hilft, wie wir noch sehen werden, die Trennung zwischen den Krankheitsentitäten, wie sie seit Kraepelin betrieben wird, als eine künstliche zu begreifen.

Menschen leben in Raumverhältnissen
    Unser Ausflug nach Wien hat uns aber neben den besprochenen Problemen auch den Problemausweg hin zum Seelenlabyrinth gezeigt. Menschen werden nämlich von unterschiedlichen Räumlichkeiten umgeben. Gemeint ist kein fester Raum, sondern ein bestimmter Raumhorizont, auf den sich der Mensch im aktuellen Seinsquerschnitt schwerpunktmäßig bezieht, von dem er beeinflusst wird und in den hinein er Einfluss nimmt.
    Diese Raumverhältnisse sind beispielsweise gegeben, wenn Sie nach der Kaffeetasse greifen und diese zum Mund führen. Damit Sie im Café Central dabei keinen Fehler machen und nichts verschütten sowie mit gespitzten Lippen die Temperatur des Kaffees schlürfend richtig prüfen können, ist der Großteil Ihrer Aufmerksamkeit auf den Raum zwischen Ihrer Handreichweite und Ihrem Mund gerichtet.
    Das Paar am Nebentisch teilt hingegen einen zeitlich begrenzten Ereignisraum, dessen Grenzen dicht um die beiden herum liegen, in denen allerdings der eine deutlich mehr an Wärme zu investieren bereit zu sein scheint als die andere. Getrennt durch den Tisch, sitzen sie außerhalb der mühelosen Handerreichbarkeit des anderen. Diese Distanz kann allerdings unter Umständen im gegenseitigen Einverständnis (gefährlicherweise manchmal auch ohne dieses) blitzschnell durchbrochen werden. Bei den Menschen gilt aufgrund von Konventionen, dem Schamgefühl und weiteren Umständen, dass nur wenige Zentimeter getrennte Hände eine Distanz zwischen sich aufbauen können, die der Strecke von Lichtjahren gleicht.
    Den Kellner hinter dem Tresen, dem dieser eine Welt ist, umgibt ein Raum, der etwas größer ist, als die Hand hinreicht, und dieser Raum ist nicht nur mit einem Objekt (wie bei Ihrem Kaffeetrinkversuch) angereichert, sondern mit vielen sich wiederholenden Objekten, z.B. Flaschen, Gläsern, Untertassen oder auch Tassen. 70 Die Aufmerksamkeit des Obers, der immer wieder nach einem Objekt in seiner Nähe greift (er poliert Gläser, räumt Geschirr zusammen u.Ä.), geht aber auch immer mit einer Überwachungsmodalität über den kleinen Raum um ihn herum hinaus. Er blickt und lauscht in den
Raum dahinter und achtet auf andere Menschen im Caféhaus und auf deren Bedürfnisse. So sieht er, wer bestellen oder zahlen will, achtet auf einen Wink und auf Zurufe. Augen und Ohren ermöglichen ihm eine permanente Rundumüberwachung. Die akustische Kontrolle des Raums ist, anders als die Handkontrolle, die nur eine bestimmte, gerichtete Reichweite besitzt, fließend und ungerichtet. Sie reicht von großer Nähe beim In-das-Ohr-Flüstern von Heimlichkeiten bis zum lauten Rufen über große Distanz.
    Wieder anders verhält es sich mit dem geteilten Raum im Stephansdom. Noch mehr Menschen, weniger Sprechen, stattdessen gemeinsame Ausrichtung der Gedanken und Gefühle auf die Transzendenz.
Gestaffelte Raumbühnen und ihr Bezug zu psychischem Wohlbefinden
    So gesehen sind Menschen eigentlich auch Handlungsreisende und Raumverhältnissucher, die mindestens so lange unruhig sind, bis sich ein stimmiges und ausreichend beruhigendes Raumverhältnis um sie herum einstellt, in das sie sich einordnen und das ihnen einen Wichtigkeitsüberblick gibt. Das kann ein sehr kleines und bergendes Raumverhältnis sein, z.B. im Uterus oder alleine unter der Bettdecke, oder ein sehr geweitetes, mit vielen anderen geteiltes, etwa bei Großveranstaltungen jeder Art, sowie alle Nuancen der Weltbegegnung dazwischen. Wir werden in den nächsten Kapiteln sehen, dass die Raumverhältnisse um uns herum jedoch nicht unendliche

Weitere Kostenlose Bücher