Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Nesch
Vom Netzwerk:
gerade vehement widersprochen, und nicht das erste Mal gestottert.“
      War es so offensichtlich? Selbst hier? Oder gerade hier und jetzt?!
      „Sie können es mir erzählen, Herr Ochs. Von mir erfährt niemand mehr etwas.“
      „Was soll das, hören Sie auf mit dem Quatsch, Sie sind eingeklemmt, wie ich, irgendwann werden wir Hunde hören oder ein Klopfen.“
      „Das Klopfen vom großen Manitu.“
      „Herr Baehr“, ermahnte ich ihn.
      „Aber ihre Freundin war nicht im Zug, nehme ich an, sonst hätte sie bei Ihnen gesessen.“
      „Nein, ich war alleine unterwegs“, sagte ich, und setzte nach, „Beruflich. Als Seminarleiter, Zertifikatehandel.“
      „Ach so“, sagte er. Der Ton seiner Stimme schlug um wie der Aggregatzustand von Blei beim Bleigießen zu Sylvester.
      Ich konnte nicht fassen, dass ich den alten Mann selbst hier anlügen konnte. Wir würden hier eventuell nicht mehr heile rauskommen, und ich belog ihn. Das machte keinen Sinn. Möglicherweise würden wir sterben, und ich log den einzigen anderen Überlebenden an.
      Ich spürte, dass mein rechter Arm eingeschlafen war. Ebenso meine Beine, meine Füße waren eiskalt. Wie lange konnte ich so liegen bleiben, bis eine Hand oder ein Fuß, Zehen oder Finger abgestorben und steif waren? Da gab es doch einen Klavierspieler, der sich einen Finger krumm gebunden hatte, über Nacht, um besser spielen zu können, und am nächsten Morgen war der Finger steif. Wer war das noch?
      Der Scheinwerfer blendete unnatürlich langsam auf, als würde sogar das Licht unter der Last leiden. Es glich einem Gähnen und gab der Situation etwas Verträumtes.
      Direkt links von mir kam der Krebs angekrabbelt. Er trippelte seitwärts und blieb stehen. Seine Zangen schienen nach dem Licht zwischen uns zu schnappen.
      Du meinst Robert Schumann.
      Was?
      Der Klavierspieler, es war Robert Schumann.
      Aber mit einem steifen Finger wäre er doch nicht berühmt geworden als Klavierspieler.
      Ist er auch nicht. Er ist durch seine Kompositionen berühmt geworden.
      Die schwarzen, kleinen Kügelchen seiner Augen ausdruckslos, bevor das Licht des Scheinwerfers langsam und dramatisch erlosch.
      Hatte ich den Krebs überhaupt gesehen? War er wirklich da gewesen?
      Ich ärgerte mich. Da hätte ich mich bei Licht nach dem Wasser umschauen können, und der Krebs hatte mich abgelenkt. Ich musste konzentriert bleiben.
      „Schade um das Licht“, sagte Herr Baehr.
      „Ja. Da haben Sie recht.“
      Kamen Krebse mit dem Wasser?
      Ich spürte meine Blase. Ich musste pinkeln. Der Kaffee setzte mir zu. Mit einem Mal schien meine Blase zu platzen. Die Gefahr, das Adrenalin und der Schock mussten den Drang bis jetzt unterdrückt haben.
      Ich kämpfte dagegen an, mich selbst zu beschmutzen.
      Als ich vor Schmerz aufgeben wollte, konnte ich nicht.
      Zu wollen, aber nicht zu können, ist schlimmer als zu können aber nicht zu wollen.
      Tropfen für Tropfen Blut.
      Ich rief um Hilfe, Herr Baehr fiel mit ein.
     
     
    What time is it?, fragte der Mann im Handy wieder. Das Brummen hatte ich bei unserem Gebrüll überhört und das blassblaue Licht übersehen.
      „Hilfe!“, rief Herr Baehr.
      It’s 11.30, we’re supposed to be there by 9.
      „Herr Baehr, seien Sie ruhig! Seien Sie bitte ruhig. Das Telefon …” 
      I’ll be ready in a minute.
      Yeah you were always fucking late, you were late for your own fucking funeral, gefolgt von dem Schuss und der Stimme Julias.
      Wieder war es ihre Mutter, sie sprach schnell, „Julia, wo bist du bloß? Julchen? Sie sind gegangen. Sie sind alle gegangen, der Richter, die Staatsanwältin, nur Frau Meyfarth steht noch neben mir. Sie sagt, wenn du dich wenigstens telefonisch gemeldet hättest, oder abgesagt oder so ...“, ihre Stimme entfernte sich, „Ja ... ja ... natürlich“, dann sprach eine andere Frau sehr bestimmt, und ich konnte ihre ernsten Falten zwischen ihren Augenbrauen förmlich sehen, dazu ein helles Klimpern, das vermutlich von einigen dünnen, goldenen Armreifen erzeugt wurde, die sie an dem Arm trug, der das Telefon hielt. Sie sagte, „Julia, deine Freundinnen haben gegen dich ausgesagt. Da konnte ich nichts machen, weil du nicht da warst. Die haben sich gegenseitig geschützt. Aber es ist noch nichts verloren. Ich kann mit Richter Brandt reden. Melde dich bitte umgehend bei deiner Mutter, sie macht sich Sorgen. Dann sehen wir weiter“, eine kurze Stille, dann wieder die

Weitere Kostenlose Bücher