Die Lokomotive (German Edition)
einmal einen richtigen Namen, nicht Gebrüder Grimm, nicht Geschwister Scholl oder Konrad Adenauer, sie hieß Grundschule Oststraße, was mehrere meiner späteren Studentenfreunde zu einem Vergleich mit der Bronx hinreißen ließ, dem heruntergekommenen Stadtteil in New York.“
„Ich weiß.“
„Und das kam so auch irgendwie hin. Die Grundschule Oststraße grenzte an eine Scherenfabrik, wo ich immer meine Freunde getroffen habe. Auf dem Gelände stand ein Kletterbaum, der sich aus der Endmoräne eines acht Meter hohen Berges weggeworfener Scherenrohlinge reckte, ungeschliffenes, weil für die Weiterverarbeitung aufgrund von Stanzfehlern wertloses, Metall. Tonnen davon. Wir spielten mit Scherenrohlingen so selbstverständlich wie Kinder am Meer mit toten Quallen.“
„Was spielt man mit kaputten Scheren?“
„Wir nahmen die mattgrauen Scherenhälften und schmissen sie in den Dreck, so dass sie stecken blieben, und wenn man das mehrmals geschafft hatte, versuchten wir uns an Bäumen, von deren Rinde sie meistens abprallten und uns um die Ohren flogen. Manchmal erwischte uns ein Fabrikarbeiter, wenn wir uns auf den Gipfel eines grauen Berges trauten. Dann rannten wir die Scherenrohlinge runter, so schnell es ging. Unter uns klirrte und knirschte das Abfallmetall aneinander. Würde einer von uns in vollem Lauf stürzen, hätte er sich schwer an den ungeschliffenen Rohlingen verletzt. Selbst wenn wir sie schmissen, riss manchmal unsere Haut an den Händen ein, weil die Kanten nicht glatt waren. Aber aus dem gleichen Grund folgte uns nie ein Arbeiter den Berg hinunter. Schon gar nicht laufend. Wir kamen immer mit Warnungen davon. Bis mein bester Freund Oliver vom Kletterbaum stürzte.“
„Jedes Kind muss mal aus einem Baum fallen. Ich bin zwei Mal von einem Baum gefallen.“
„Aber nicht auf ein Meer von Scheren. Wir saßen nebeneinander auf einem Ast. Ich am Stamm, er außen. Auf den anderen Ästen der Rest unserer Gang. Als er sich zu mir umdrehte, um mir etwas zu erzählen, brach zwischen uns der Ast durch. Einfach so.“
„Nein.“
„Ja, ich weiß, das klingt unglaublich, aber ich schwöre, es war genau so.“
„Nicht zu glauben ...“
„Olli schlug hart auf den Scheren auf, die den Boden bedeckten. Mühsam richtete er sich auf, und wir sahen, wie das Blut seitlich aus seinem Schädel sprudelte. Während einer von uns nach Hause lief, um einen Krankenwagen zu rufen, brachten wir Olli über den Schulhof zum Ausgang. Dort wurde er abgeholt. Es durfte niemand wissen, wo der Unfall passiert war. Das trichterten wir ihm immer wieder ein, bis der Krankenwagen kam.“
„Hat er euch verraten?“
„Nein, er hat ihnen erzählt, er wäre beim Nachlaufen gegen einen Stromkasten gerannt.“
Ich wartete eine Reaktion ab, dann erzählte ich meine Geschichte zu Ende. „Wir schauten dem Krankenwagen nach, bis er verschwunden war, und gingen zurück zum Kletterbaum und schmissen Scheren.
Über mir das laute Aufkreischen von aneinander reibendem Metall, wieder riss ich die Augen auf, die ich geschlossen hatte, um mich besser konzentrieren zu können. Wieder spannte ich in Erwartung des sicheren Endes alle meine Muskeln an und holte tief Luft. Stattdessen wurde es still, und nur das Licht zitterte altersschwach, blinkte, ohne jemals vollends auszugehen.
Die Pufferscheibe der Lokomotive über mir und weiter höher die zerstörte Hand eines Menschen im Schrott.
Ich wusste nicht, was mir lieber war, die komplette Dunkelheit, in der ich nichts sah, oder das Licht und dann diese Szenerie? Aber ich hatte nicht die Wahl. Ich musste nehmen, was kam.
„Denken Sie auch immer, gleich stürzt alles endgültig zusammen?“, fragte mich Herr Baehr.
„Ja. Aber vielleicht sind es auch die Rettungsmannschaften.“
„Meinen Sie, die sind schon da?“
„Natürlich“, sagte ich.
„Sie wissen doch gar nicht, wie lange wir hier liegen.“
„Lange genug.“
„Als das Haus nach dem Treffer über uns einstürzte, da kam es dem Otto vor wie ein halber Tag. Dabei war es eine halbe Stunde. Eine halbe Stunde waren wir verschüttet. Zeit ist sehr relativ.“
„Immerhin brennt das Licht, ohne dass es nervt. So ist das Blinken okay, denken Sie nicht auch?“
„Ja.“
Eine Stille, als würden wir gemeinsam das Scheinwerferlicht genießen.
„Herr Ochs, warum haben Sie eigentlich den Zug genommen? Leute wie Sie fliegen für
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