Die Lokomotive (German Edition)
Jahren ist man reif, den Führer zu stürzen, aber heute ...“, er brach den Fluss seiner Erinnerung ab.“
„Wie alt waren Sie, als Sie gefangen genommen wurden?“
„20 Jahre! Ich bin mit 20 in russische Gefangenschaft gegangen. Ich war 33, als ich in die Bundesrepublik zurückkehrte.“
Eine lange Zeit. Schwer vorstellbar. Das würde für mich bedeuten: keine Karriere, keine Lilli, keine Francesca und keine Kirsten, keine Imre, keine Nina, oder wie sie alle hießen, keine der Partys, keinen Urlaub und keine der großen Momente auf dem Parkett.
„Was denken Sie?“, fragte Herr Baehr.
Ich verzog das Gesicht, weil ich mich gerne weiter an diese Zeit erinnert hätte. Plötzlich drängte sich wieder das unablässige Tropfen in mein Bewusstsein. Doch davon wollte ich nicht erzählen. Ich wollte mich davon ablenken.
„Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn ich die letzten zwölf Jahre in einem Gefängnis gewesen wäre.“
„Keine schöne Vorstellung, oder?!“
„Nein.“
„Das Wasser kommt.“
„Was?“
„Das Wasser, das Meer ... meine Füße, die Hacken sind nass.“
Er sagte das mit einer solch sachlichen Stimme, dass ich erst glaubte, ihn falsch verstanden zu haben.
„Spüren sie es?“
„Ich sehe es!“
Sofort kreiste mein Kopf in sämtliche Richtungen. Die Dunkelheit verwehrte den Blick, und ich lauschte, ob ich ein verdächtiges Plätschern hörte.
Waren meine Füße vielleicht auch schon nass, nur merkte ich es nicht? Meine Brust zog sich zu, Kurzatmigkeit, ich räusperte mich.
„Sie können sich wirklich nicht befreien?!“, fragte er.
„Nein!“, meine Stimme überschlug sich dabei, als wäre ich im Stimmbruch, und ich sagte betont ruhiger, „Keine Chance.“
Ich konnte nur warten, warten, warten. „Und Sie, Herr Baehr, Sie können sich wirklich kein Stück bewegen?!“
„Nein“, kam es nach einer Weile leise aus der Dunkelheit, „Ich kann mich kein Stück bewegen.“
Hatte der alte Mann es überhaupt richtig probiert? Was für einen Antrieb hatte er?
„Herr Baehr, was wollten Sie eigentlich auf Sylt? Auch ... Urlaub?“
„Ja.“
„Alleine?“
„Meine Frau und ich sind jedes Jahr um diese Zeit nach Norddeutschland in den Urlaub. Ich kenne mich hier oben aus wie in meiner Westentasche, besser als in Dortmund.“
„Und ihre Frau ist ...?“
„Verstorben, vor vier Jahren.“
„Das tut mir leid.“
„Es war eine Erlösung für sie, das letzte Jahr war sie nicht mehr sie selber. Alzheimer, wissen Sie.“
Ich wusste nur zu genau, „Ja.“
„Ich meine, kennen Sie einen Alzheimerfall persönlich, oder nur aus dem Fernsehen?“
Das bittere Gefühl war frisch, obwohl es Jahre zurücklag, „Persönlich.“
Er wartete einen Moment, wahrscheinlich überlegte er nachzufragen, entschied sich aber dagegen. Vielleicht dachte er, ich würde schon weiter erzählen, wenn ich wollte.
„Na, dann wissen Sie Bescheid ... auf jeden Fall, wir sind hier immer hochgefahren, mit dem Auto, oder mit der Bahn. Der Bürgermeister von Bredstedt hatte uns 2001 einen Pokal überreicht. 25 Jahre Schleswig-Holstein.“
„Immer an den gleichen Ort?“
„Nein, das nicht. Aber stets mehrmals und immer die gleiche Gegend. Eine schöne Zeit. Ich vermisse sie.“
Für einen Moment glaubte ich, er meinte die schöne Zeit, aber ich besonn mich. „Wie lange waren Sie verheiratet?“
„44 Jahre. Drei Kinder, aus allen ist was geworden. Beim Peter, unserem Nachzügler, hatten wir uns Sorgen gemacht, aber der kam auch unter die Haube. Die Mädchen haben selbst schon Kinder, ich bin vierfacher Opa. Sind Sie verheiratet?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
So hatte mich das noch niemand gefragt, auch ich selbst nicht.
„Ich weiß nicht. War wohl nicht die Richtige dabei.“
„Haben Sie eine Freundin?“
Wenn ich das bloß selber wüsste. Waren es eine oder zwei? Oder keine der beiden?
„Ja, habe ich.“
„Warum heiraten Sie nicht?“
„Tja, warum?“, fragte ich zurück und gleichzeitig mich.
„Sind Sie richtig verliebt?“, fragte er lauter, weil er wohl dachte, ich hätte ihn nicht verstanden.
Wenn ich diese Frage jemals beantworten könnte, „Ja, bin ich!“
„Aber nicht in ihre Freundin, oder!?“
„W-warum?“
„Weil Sie sonst nicht hätten drüber nachdenken müssen. Außerdem hätten Sie ansonsten
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