Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Nesch
Vom Netzwerk:
bestimmt auf Spezialgerät warten, Spezialkräne. Und die parkten sicherlich nicht in jedem Bahnhof.
      Auch Herr Baehr schwieg. Die Stille lag zwischen uns wie ein Trümmerteil.
      „Was haben Sie da eigentlich eben gerufen? Wer ist Ernst?“, fragte ich ihn.
      Seinem Räuspern folgte ein Stöhnen. „Ernst?“
      „Ja, Sie haben gerufen: Ernst ... wir sind verschüttet ... Hilfe. Als es flackerte.“
      „Ach, das liegt lange zurück.“
     
     
    „Ich darf annehmen, Sie haben von Stalingrad gehört?“, fragte er mich nach einer Pause.
      „Ja, kenne ich.“
      „Nein, das kennen Sie nicht. Niemand, der nicht dabei war, kennt Stalingrad.“
      „Das meinte ich auch nicht so, Herr Baehr, sondern, ich habe davon gehört.“
      Er ließ sich Zeit. Die Stille zwischen uns traf mich mit der Wucht einer atemraubenden Windböe. Ich musste etwas sagen, „Sie ... waren in Stalingrad?!“
      „Ja.“
      „Und Sie wurden gefangen genommen?“
      „Es gab nur Gefangenschaft oder Tod. Sonst würde ich hier nicht liegen. Viele von uns sind auch in der Gefangenschaft gestorben. Ich hatte Glück. Jeder aus meiner Generation kennt jemanden, der im Krieg gefallen ist.“
      „In meiner Generation kennt jeder jemanden, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.“
      „Wer so alt ist wie ich, kennt mehr Tote als Lebendige.“
      Selbst eine Sekunde andächtiges Schweigen war mir zu viel, und ich fragte, „Was hatten Sie vorhin gerufen?“
      „Was hatte ich denn gerufen?“
      „Von Ernst. Sie wären verschüttet ... es sei denn, damit meinten Sie uns.“
      „Nein, nicht uns, nicht Sie und mich. Wir ... damals ... wir kauerten damals seit Wochen in einem Keller. Ein Pak-Treffer ins Haus ließ es zusammenstürzen. Ernst war auf der Stelle tot.“
      Die Bluttropfen klopften regelmäßig auf meinen Ärmel. Ich musste mich auf unsere Unterhaltung konzentrieren.
      „Ernst war einer ihrer ...“, mir kam nur das Wort Kollegen in den Sinn.
      „Kameraden“, half er mir aus.
      „Kameraden. Ihr Kamerad war tot. Und was war mit Ihnen und den anderen?“
      „Verschüttet.“
      „Wie sind Sie raus?“
      „Wir haben gegraben. Bis die Hände bluteten, die Frostbeulen aufplatzten. Stein für Stein. Durch das kleine Fenster des Kohlenkellers. Naja, Kohle gab’s da keine mehr, schon lange nicht mehr. Kam ja nichts durch.“
      „Aber Sie haben es geschafft.“
      „Wie man’s nimmt. Draußen erwartete uns der Russe.“
      „Wurde geschossen?“
      „Wir wurden gefangen genommen. Das war Januar 1943. Der kälteste Tag in meinem Leben.“
      „Wie lange waren Sie in Gefangenschaft?“
      „13 Jahre. 1956 bin ich zurück nach Deutschland gekommen, nach Dortmund. Strühlow, mein Heimatdorf in Pommern, das gehörte ja nun zu Polen. Dreizehn Jahre und zwei Monate später. Nach dreizehn Jahren Gefangenschaft.“
      „In Sibirien?“
      „Ja, aber nicht sofort. Es folgte eine Odyssee durch zahlreiche Auffanglager für Kriegsgefangene. Und wir wurden immer weniger. In den Lagern wurden wir befragt. Unterschreiben musste man, was man vorgesetzt bekam.
      „Unterschreiben? Was unterschreiben?“
      „Sein Schuldeingeständnis, sein Urteil.“
      „Wie?“
      „Ja, man wurde verurteilt als Kriegsgefangener. Sehen sie, da war ein junger Schlesier vor mir dran, ich stand in dem Raum an der Wand neben einer Wache. Und der russische Offizier, der gebrochen Deutsch sprach, verurteilte ihn zu zehn Jahren Haft, und sagte, er solle das Urteil unterschreiben. Doch der Schlesier, er war vielleicht 18, älter auf keinen Fall, sagte: Das unterschreibe ich nicht. Da guckte der Offizier kurz und sagte: Gut, du nicht zufrieden mit zehn Jahren, du dann zwanzig Jahre. Das habe ich nie vergessen. Er änderte das Urteil, unterschrieb selbst, Stempel drauf, und der Schlesier wurde abgeführt.“
      „Bekamen Sie auch ... zehn Jahre?“
      „Nein, ich bekam sofort zwanzig, das Alter entschied. Ich musste ein Nazi gewesen sein, der Hitler an die Macht gewählt hatte.“
      „Hatten Sie?“
      Er schwieg, und ich verfluchte meine Frage. Ich hatte gar nicht weiter drüber nachgedacht, sondern einfach den Fluss der Unterhaltung nicht stören wollen.
      „Wie denn? Ich bin Jahrgang 23.“
      „Warum hat dann der russische Offizier ...?“
      „Es war Krieg, Herr Ochs, Krieg, der Zweite Weltkrieg innerhalb 30 Jahren, der von Deutschland ... ach, erst glaubte ich, die dachten mit 20

Weitere Kostenlose Bücher