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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Nesch
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gewöhnlich nach Sylt.“
      „Ich fliege nicht.“
      „Warum nicht?“
      „Ich fliege nicht gerne.“
      „Sie haben Angst vorm Fliegen?“
      „Mmh.“
      „Flugangst!?“
      „Ja.“
      „Aber Sie sind schon einmal geflogen?“
      Wie oft mir diese Frage schon gestellt wurde, wie oft ich diese Diskussion schon hatte.
      Francesca wäre gerne mit mir geflogen. Jedes Jahr im Dezember, wenn wir unseren gemeinsamen Jahresurlaub planten, hatten wir diese Diskussion. Erst drehte es sich darum, wo wir hin wollten, wobei ich die Vorschläge wie Ägypten oder Südafrika direkt zurückwies, weil mich das angeblich nicht interessieren würde, diese Orte in der Tat aber auch schlecht mit dem Auto zu erreichen waren. Letztes Jahr einigten wir uns auf Rom, mit dem Nachtzug, und wir hatten wirklich eine schöne Zeit dort.
      Das Flugargument vermied ich stets. Francesca sprach es an. Vor allem, weil wir auch immer nur zehn Tage Zeit hatten, länger konnte ich meiner Arbeit beim besten Willen nicht fern bleiben, informieren musste ich mich sowieso täglich über das Börsengeschehen. Irgendwann war die Sackgasse Fliegen erreicht, dazu kannte mich Francesca zu gut. Und ich begann, ihr mit allen aufzählbaren Vorteilen Gegenden wie die Toskana oder die Cote d’Azur schmackhaft zu machen, Regionen, die wir leicht mit meinem Cayenne erreichen konnten. Jedes Mal, wenn sie einwilligte, musste ich ihr versprechen, mich bei einem Kurs gegen Flugangst anzumelden. Und sofort stand ich auf und rief die Lufthansa an. Aber immer kam im letzten Moment ein wichtiges Meeting oder ein anderer Termin dazwischen.  
       „Sagen Sie bloß, Sie sind noch nie geflogen. Das gibt’s nicht.“
      „Gibt’s“, sagte ich.
      „Kann ich mir kaum vorstellen, Sie sind doch ein so toller Hecht im Beruf.“
      „Selbst mit allem Geld der Welt kann ich in 10.000 Meter Höhe kein ausgefallenes Triebwerk reparieren.“
      Herr Baehrs Gelächter verwandelte sich in ein Husten. Sobald er sich wieder unter Kontrolle hatte, sagte er, „Ich wette, den Satz haben Sie schon öfter angebracht.“
      „Das habe ich in der Tat.“
      Er wirkte ein wenig wie ein Ventil bei Francesca.
      „Humor haben Sie. Warum haben Sie Flugangst? Warum hat man Flugangst?“
      „Es könnte etwas passieren.“
      „Tja, da ist ihr Plan heute mit dem Zug nicht aufgegangen.“
      „Kann man wohl sagen.“
      Es musste doch einen Weg geben, wie wir auf uns aufmerksam machen konnten.
      „Herr Baehr, reichen Sie nicht doch irgendwie an ein Stück Metall heran, mit dem Sie Krach machen können?! Bei mir ist wirklich nichts in Reichweite.“ Meinen weggeworfenen Bolzen verschwieg ich.
      „Nein. Glauben Sie mir.“
      „Verdammt“, flüsterte ich und ließ meinen Kopf, den ich zum Reden leicht angehoben hatte, entspannt zurück auf den blutfeuchten Boden schmatzen.
      Sofort erwartete ich den nächsten Tropfen Blut. Er landete im Haar, und ich wischte mit der Hand über meinen Kopf.
      Der Puffer der Lokomotive über meinem Gesicht wie eine schwarze Sonne aus Kruppstahl.
      „Meine Beine liegen im Wasser. Das spüre ich, es geht mir bis an die Hüften“, sagte Herr Baehr, als lese er laut die Kursnotierungen ihm bestens bekannter Indizes vor.
      Wieder schaute ich mich um. Jetzt sah auch ich das Wasser, etwa einen Meter weiter schimmerte es dunkel. Gebannt haftete mein Blick auf der Pfütze. Kleine Holz- und Papierstücke schwammen auf der Oberfläche. Die Bewegung der Flut konnte ich sehen. Vor meinen Augen, gleich hinter dem Handy, lief eine Vertiefung voll.
      „Ich habe nicht mehr lange“, rief Herr Baehr.
      „Ich auch nicht“, sagte ich leise zu mir und dann lauter zu ihm, „Ich kann das Wasser auch schon sehen.“
      „Wie weit ist es weg von Ihnen?“
      „Einen Meter etwa.“
      „Es geht schnell. Heute gibt es eine starke Flut, es ist Vollmond.“
      Das sagten Sie bereits, dachte ich und zerrte an meinen Gliedern.  
     
     
    Das Handy brummte.
      „Telefon!“, rief ich und lachte kirre auf.
        What time is it?
      „Für mich oder für Sie?“, fragte Herr Baehr.
      Wir zwangen uns zum Lachen, wir lachten eine Spur zu lange, aber es tat gut. Wir wurden verrückt. Langsam verloren wir den Verstand. Rational war die Situation auch nicht zu begreifen, weder zu erklären, noch zu ertragen.
      Lache, wenn es zum Weinen ist. Der Spruch hing eingebrannt auf einer Scheibe Holz an der Wand bei Francescas

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