Die Lokomotive (German Edition)
Stimme der Mutter, „Julia. Hast du gehört, was die Frau Meyfahrt gesagt hat. Es ist noch nichts vorbei. Wie auch immer. Ruf mich an, sobald du die Nachricht gehört hast, ja?! Ich hab dich ...“
Die Mailbox hatte sich ausgeschaltet. Die 30 Sekunden waren um.
„Das Mädchen steckt wirklich in Schwierigkeiten“, sagte ich und bereute es im selben Moment.
„Ja, wie Sie und ich ... wenn sie Glück hat.“
Glück würde ich das hier nicht nennen. Auch wenn ich wusste, wie Herr Baehr das meinte. Ich widersprach ihm nicht.
„Ich höre ihr Handy nicht, Herr Ochs. Warum ruft Sie niemand an?“
„Es ist wahrscheinlich kaputt. Oder es liegt unter einem der Trümmer, tief in der Erde. Und Sie? Haben Sie kein Handy?“
„Nein, wozu denn? Ich bin Rentner, lebe alleine, die Kinder besuchen mich zum Geburtstag und zu Weihnachten. Ansonsten rufen sie sonntags an. Und krank, wie mein Nachbar, bin ich nicht, der braucht das im Notfall.“
Ich schlug in den Matsch neben mir.
Ein Bluttropfen fiel in mein Haar.
„Abgesehen davon, käme ich im Moment sowieso nicht dran“, sagte Herr Baehr leise.
Ich wünschte, es gäbe mal gute Nachrichten. Den Gedanken der Aussichtslosigkeit verdrängte ich. Alles, was wir hatten, waren unsere Leben, Chancen sah ich keine.
Der blassblaue Schimmer senkte sich auf die Trümmer und auf meine rechte Gesichtshälfte, gefolgt von dem Brummen des Handys.
„Herr Baehr! Der nächste Anruf!“
„Das ging aber schnell.“
What time is it?
It’s 11.30, we’re supposed to be there by 9…
Wieder lauschten wir unserem Sprachrohr der Außenwelt. Es war mein Anker in der Wirklichkeit inmitten dieses Wahnsinns, der letzte Halt. Ich gierte nach Neuigkeiten, auf den Anruf, der da sagte, dass sie von dem Zugunglück wussten und Rettungsmannschaften unterwegs seien. Aber ich bemerkte auch eine Form voyeuristischer Neugierde in mir, die rein auf Informationen über Julia und ihr Leben aus war. Ich war auch jemand, der langsam an Autobahnunfällen vorbei fuhr. Gerade von der erhöhten Sitzposition meines Cayennes hatte man einen hervorragenden Überblick.
…you were late for your own fucking funeral, Schuss, Mailboxansage.
Die tränenerstickte Stimme der Mutter, „Ich hab dich lieb, Julia. Bitte melde dich“, und dann ihr Kuss, vierzig Zentimeter von meiner Wange entfernt, und Herr Baehr und ich hörten ihn, klar und deutlich unter all dem Stahl und Schrott in der stillen Dunkelheit, in der fremdes Blut alle fünf Sekunden auf meinen Kopf oder Arm tropfte, den Kuss einer Mutter.
Der Scheinwerfer leuchtete schwächer, die Schattenwelt nahm Konturen an. Wenn man lange genug auf das Chaos schaut, dann findet man auch in ihm Struktur, oder was man dafür hält.
Wenn ich meinen Kopf nach hinten beugte, erkannte ich ein großes X geformt aus zwei langen Blechen, wie die gekreuzten Schwerter im Stadtwappen meiner Geburtsstadt Solingen, der Klingenhauptstadt.
„Herr Baehr, erzählen Sie etwas!“
„Sie können auch gerne, mir fällt es gerade sehr schwer. Ich würde lieber etwas von Ihnen hören. Wenn es ihnen nichts ausmacht.“
„Worüber denn?“
„Irgend etwas.“
„Ich habe gerade an Solingen gedacht, wo ich geboren wurde.“
„Erzählen Sie.“
„Wir haben im 4. Stock zur Miete gewohnt, meine Mutter und ich. Unterer Mittelstand. Mein Vater war LKW-Fahrer, irgendwann fuhr er los und kam nicht mehr wieder.“
„Oh.“
„Ja, die Erinnerung an meinen Vater ist mehr ein Wunsch. Meine Mutter war Putzfrau, sie putzte das Mietshaus, in dem wir wohnten, zwei weitere Häuser in unserem Block und eine Gaststätte. Die Hälfte der Leute, die in den Mietshäusern wohnten, waren auch Stammgäste in der Kneipe.“
„Sie stammen aus einfachen Verhältnissen.“
„Ja.“
„Wie ich. Das wundert mich.“
„Warum?“
„Ich dachte, Leute wie Sie, in ihren Positionen, haben einen entsprechenden Familienhintergrund.“
„So ist es auch bei vielen meiner Kollegen, auch bei Markus, die haben ganz andere Kontakte, aber bei mir, in meiner Kindheit, war das Geld immer knapp, in den Urlaub konnten wir nicht. Während meine Mitschüler am ersten Schultag über ihre Urlaube in mediterranen Ländern erzählten, berichtete ich von unserem alljährlichen Ausflug zum Phantasialand.“
„Da waren wir mit unseren Kindern früher auch schon.“
„Meine Grundschule hatte nicht
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