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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Nesch
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eingeschlafen, können Sie sich das vorstellen, eingeschlafen.“
      „Das ist ja ... das ist schön zu hören.“
      „Als alles über mir ins Rutschen kam, dachte ich, das war’s. Aber nun ... bin ich frei.“
      „Frei?“
      „Ja, ich kann mich bewegen. Nichts liegt mehr auf mir. Nichts! Und ich bin unverletzt.“
      „Glückwunsch. Das ist ja fantastisch.“
      „Und Sie?“
      „Hier hat sich nichts verändert“, sagte er mit leiser Stimme.
      „Das tut mir leid“, aber ich konnte die Freude über meine Freiheit meinen Worten nicht gänzlich entziehen.
      „Kommen Sie jetzt an das Telefon?“, fragte er.
      Richtig, das Telefon, schlagartig wurde ich ernst. Ich warf mich herum, versuchte mich neu zu orientieren.
      „Warten Sie.“
      „Gut.“
      Nichts sah mehr so aus wie vor dem großen Rutsch. Einen halben Meter rechts von mir hatte die Wucht des Eigengewichtes den Puffer der Lokomotive in den Boden getrieben, der andere war nicht zu sehen. Die rote Wand der Lok ragte schräg auf und verschwand über mir in einem undefinierbaren Berg aus Trümmern. Unerklärlich, wieso ich unversehrt war.
      Ich konnte mich zwar bewegen, aber nur geduckt sitzen, aufrichten konnte ich mich nicht, dafür war mein Gefängnis nicht hoch genug.
      Nirgendwo konnte ich meinen Arm geradeaus nach oben strecken, nur durch vereinzelte schmale Schächte.
      Als ich versuchte, um den Puffer herum zu schauen, traf mich ein Tropfen Blut auf den Handrücken. Ich blickte hoch durch einen schmalen Schacht aus Drähten und Stahl, und im reflektierten Scheinwerferlicht erkannte ich hinter der zerstörten Windschutzscheibe einen Ausschnitt des toten Lokführers. Sein verzerrtes Gesicht mit den offenen Augen und dem entstellten Mund durch die gebrochenen Kiefer. Ein weitaufgerissenes Auge starrte verloren nach oben, das andere stierte mich an, und an seinem Kinn unterhalb der geplatzten Lippen sammelte sich der nächste Tropfen. Ich wich ihm aus.
      Ein kurzer Schrei entfuhr mir. Genau so reflexartig wie mein Blick nach oben, griff meine Hand zum Herzen und vollführte das komplette katholische Kreuz, obwohl ich evangelisch war.
      „Was ist?“, rief Herr Baehr.
      „Das Blut ... die Tropfen. Sie kommen vom Lokführer.“
      „Ist er ...?“
      „Ja.“
      „Sicher?“
      „Ganz sicher, Herr Baehr.“
      „Kommen Sie hin zu ihm?“
      „Warum sollte ich ...?“
      „Funk oder Telefon, Kommunikation ...“
      Ich ballte eine Faust und schlug neben mir in den Matsch, „Nein, komme ich nicht, es ist unmöglich.“
      Leise platschte das Blut auf den feuchten Boden.
      „Wie sieht es mit dem Handy aus?“
      Ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand, „Ich suche ja, ich suche ja.“
      Wie weit hatte es mich herumgewirbelt? Es war mir unmöglich, meine alte Position zu bestimmen, wo ich gelegen hatte. Eine Blutlache, die sich durch all die Tropfen um meinen Körper gebildet haben musste, war nirgends zu erkennen. Also schob ich den Schutt am Boden von einer Ecke in die andere und ließ meine gespreizten Finger wie Krallen durch die Kleinteile aus Plastik und Stahl fahren.
      Einen grünen Kugelschreiber fand ich. Alles erschien wichtig, was nach Leben, nach Alltag aussah. Ich las die Aufschrift: Polizei Niedersachsen.
      Gehörte der Kugelschreiber dieser Julia? Hatte sie ihn auf einer Wache bekommen, oder ihn mitgehen lassen?
      Ich steckte den Stift ein und grub weiter, erst ohne System, dann entschied ich mich in einer Ecke anzufangen und wie ein Mähdrescher mein Feld zu bearbeiten. Bahn für Bahn. Mein Freiraum hier war zwar nicht hoch, aber ich konnte mich gut um mich selber drehen und hatte dabei noch Platz nach allen Seiten.
      Etwas regte sich hinter der abgebrochenen Armstütze einer Sitzbank. Der Krebs lugte hervor. Er ruderte mit seinen kleinen Zangen in der Luft, als würde er mich zu sich winken.
      Wie selbstverständlich flüsterte ich, „Schön dich zu sehen. Auch überlebt? Du hast nicht zufällig ein Handy gesehen?“
      Das ist deine Aufgabe, Thomas.
      Ich kann jede Hilfe gebrauchen.
      Dann geht’s dir nicht viel anders als den meisten.
      Feucht glänzte seine Schale im Scheinwerferlicht. Das ist die Flut, dachte ich und legte mein Gesicht flach auf den Boden, um herauszufinden, wie nah das Wasser war.
      Immer wieder veränderte ich den Blickwinkel. Als ich am Ende eines Spaltes im Schuttberg die sich spiegelnde schwarze Fläche entdeckte, passte ich nicht

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