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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Nesch
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Eltern im Flur neben dem verschnörkelten Kleiderständer. Mir wurde klar, wie man auf so was kommen konnte. Wenn Verzweiflung in Wahnsinn kippt.
      Hoffentlich spülte die kommende Flut das Handy zu mir, ohne dass es vorher vom Wasser zerstört wurde.
      Yeah you were always fucking late, you were late for your own fucking funeral, der Schuss, die Ansage und diesmal eine junge Männerstimme, „Hey Juli, hier iss Mack. Wo warste, Alte? Waren alle da. Is super gelaufen. Wir feiern jetzt. Pia und Bobbel polen Wodka beim Lidl. Warte, ich seh se schon. Hehehe“, er rief, „Die sind doch scheißedoof da drinne. Ich seh die Beulen in den Jacken von hier“, dann sprach er weiter, im Gehen, das hörte ich am rhythmischen Sprechen, „Ehrlich ... also, Juli, melde dich, und hey, der Richter hat dich vermisst, ey. Klingel da mal durch. Alles cool. Is alles cool. So, muss los, Ciao.”
      Wieder versuchte ich vergeblich nach dem Telefon zu greifen, als ob sich meine oder seine Lage in der Zwischenzeit verändert hätte, und spürte ein scharfes Zwicken am rechten Ohr.
      „Aua!“, rief ich mehr aus Überraschung, und warf meinen Kopf zur anderen Seite. Durch den Schwung flog der Krebs, der mit seiner Zange in mein Ohr gekniffen hatte, über mich und landete links neben mir.
      Ich rieb mein Ohr.
      Er duckte sich und zog die Beine ein, die Zangen zum Kampf empor gestreckt.
      Mit der Faust wollte ich erst auf ihn drauf hauen, ihn zerstören, töten, hielt aber über ihm inne und warnte ihn flüsternd, „Noch bin ich nicht tot!“
      Das habe ich auch nicht behauptet.
      Aber schon mal probiert.
      Ich habe dich geweckt.
      Ich habe nicht geschlafen.
      Auch das habe ich nicht gesagt, du darfst nicht verstehen, was du verstehen willst.
      „Was haben Sie?“, erkundigte sich Herr Baehr.
      Mein Blick haftete auf dem Tier, „Ein Krebs hat mich angefressen ...“
      Er lachte und hustete länger, bis er wieder etwas sagen konnte, „Fischfutter, Fischfutter werden wir sein.“
      Ich wandte mich von dem Krebs ab.
      Würde Francesca daran denken, die Kaktuswelse zu füttern?
      Ein Tropfen Blut auf meiner Stirn.
      Ich rief, „Noch bin ich nicht tot“, und noch einmal lauter, „Ich bin noch nicht tot.“
      Mit meiner freien Hand griff ich mir eine Faust Schlick und Kleinteile und schleuderte den Dreck um mich. Beim zweiten Mal bemerkte ich das Wasser, das bereits bis in ans Handy gekrochen war.
      Ein entferntes Quietschen, als arbeitete der Haufen Schrott behäbig wie ein Gletscher.
      Das Brummen des Handys und What time is it?
      Ich hörte das Kreischen von Metall auf Metall, und Streben brachen knallend.
      It’s 11.30, we’re supposed to be there by 9.
      Geräusche, als rammten wir einen Eisberg.
      I’ll be ready in a minute.
      „Hilfe, Hilfe!!“, Herr Baehr schwach von irgendwo.
      Ein Tropfen Blut in meinem Haar.
      Yeah you were…
      Die Wasseroberfläche neben dem Handy kräuselte sich. Auch ich schrie, einfach um den Druck von meiner Brust zu lassen.
       ...late for your own fucking funeral, der Schuss, die Mailbox, und die Mutter weinte ins Telefon, „Julia, wo bist du bloß, Julia ...“
      Der Rest ging unter im Getöse sich biegenden Stahls, splitternden Plastiks und Holz.
      Mit einem Ruck und einem wachsenden Ächzen setzte sich die Lokomotive über mir in Bewegung, das Licht flackerte wieder, der Boden bebte.
      Ich schloss die Augen, spürte, wie mächtige Kräfte an meinem rechten Arm und an meinen Beinen rissen.
      Ein hilfloses Anschreien gegen das Crescendo von Stahl auf Stahl, bis ich mich selber im Getöse nicht mehr hören konnte. Matsch schwappte mir ins Gesicht, ich biss auf meine Zähne, als würde ich ohne Narkose operiert, so erwartete ich das Ende, hin und her geworfen von mächtigen Pranken, die an meinem Körper rissen, mit einer nie gespürten gleichgültigen Gewalt.
     
     
     
     
     

II.
     
    Kalte Nässe benetzte meine linke Gesichtshälfte, ein wulstiger Gegenstand lag auf der anderen. Mein Puls baute einen Innendruck in meinem Kopf auf, und meine Augäpfel drängten aus ihren Höhlen. Gleißende Lichtstrahlen und schwarze, kantige Schatten teilten sich gerecht die Welt um mich herum. Alles sah anders aus, und der Puffer schwebte nicht mehr über mir.
      Mit meiner linken Hand tastete ich im feuchten Schutt, tastete nach meinem Kopf, schützte meine Augen vor dem grellen Licht. Staubpartikel schwebten langsam nieder, wie

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