Die Lokomotive (German Edition)
mikroskopisch kleine Schneeflocken. Für einen Moment hielt mich der Anblick gefangen. Kein Wind, nur mein Atem brachte die Wolke aus Staub vor mir durcheinander, wirbelte die Teilchen in einem Strudel von mir fort.
Das taube Gefühl in den Ohren wich dem Rauschen des Blutes. Mit meiner linken Hand wollte ich den Gegenstand anheben, der meinen Kopf zu Boden drückte. Der vermeintliche Gegenstand war mein lebloser rechter Arm.
Ich zuckte zusammen. So sehr ich ihn aus eigener Kraft anheben wollte, er reagierte nicht. Ich erfasste das kalte Fleisch meiner toten Hand und warf den Arm an Seite, als wäre er kein Teil von mir. Dumpf klatschte er zu Boden, während es in der Schulter knirschte und schmerzte. Panik beschleunigte meinen Atem.
Trotz des Schwindels hob ich den Kopf ruckartig an und besah mir die Schulter und meinen leblosen Arm, als hätte ich zum ersten Mal in meinem Leben die Form eines menschlichen Körpers angenommen. Ich war überrascht, dass er noch an meiner Schulter hing, so tot lag er da, so tot fühlte er sich an.
Konnte er schon abgestorben sein? Ihm eine Bewegung abzuringen war unmöglich. Ich starrte ihn an, als könnte mein Blick meinem Willen helfen.
Und was war mit meinen Beinen?
Lediglich einzelne verbogene Stangen kreuzten meine Glieder. Ich fegte sie mit meiner Linken rasch hinunter, als würde jede Sekunde und jedes Gramm zählen. Scheppernd kam der Schrott neben meinen Beinen zu liegen.
Mit der Angst vor schlechten Nachrichten wagte ich einen Blick an meinem Körper herunter. Meine Beine lagen frei. Oberflächlich waren sie unversehrt, vom Oberschenkel bis zu den Zehenspitzen. Auch den zweiten Schuh hatte ich verloren. Aber die Beine waren ebenso willenlos wie mein rechter Arm. So sehr ich sie bewegen wollte, sie reagierten nicht. Keine Regung, weder in den Hosenbeinen noch in den Socken.
Ich konnte doch nicht beide Beine und meinen Arm verloren haben, indem sie einfach abgestorben waren. Bilder von Amputationen und einem Leben im Rollstuhl keimten auf. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein.
Plötzlich spürte ich ein unangenehmes Ziehen in meinem Arm. Ich dachte, wenn ich Schmerz spüren konnte, dann war der Arm nicht tot. Der Schmerz schwoll an, und meine Hand zuckte. Sie zuckte, sie hatte sich bewegt.
Auch in den Beinen setzte dieser ziehende Schmerz ein, immer stärker, bis ich aufstöhnen musste, aber ich war gleichzeitig überglücklich. Ich genoss den Schmerz, den meine wiederbelebten Glieder erzeugten.
Als der Schmerz in ein starkes Kribbeln überging, begann ich zu lachen. Eingeschlafen, meine Glieder waren nur sehr tief eingeschlafen, bis zur Blutleere. Jetzt floss das Blut wieder durch die Adern und Venen.
Natürlich! Meine Glieder waren taub und steif, weil sie so lange eingeklemmt gewesen waren.
Ich freute mich wie ein kleines Kind, als ich erst den Arm und dann ein Bein nach dem anderen bewegen konnte. In den Knien knirschte es, als wären die Gelenke trocken, bar jeder Schmiere. Und es dauerte eine ganze Zeit, bis ich das eine Bein angewinkelt hatte, auch das schmerzte, vor allem im Knie, aber ich konnte mich wieder normal bewegen. Ich war unversehrt.
Erleichtert ließ ich meine Beine wieder zurück auf den Boden sinken und winkelte sie erneut an. Ich wiederholte die Übung und knetete dabei die Oberschenkelmuskeln mit meinem linken Arm. Ebenso bewegte ich den rechten Arm, er gesundete weitaus schneller als die Beine.
Ich besah mir meine Armbanduhr. Für einen Moment hoffte ich den sekundengenauen Zeitpunkt der Katastrophe von den eingefrorenen Zeigern ablesen zu können, wie ich es von Filmen her kannte, aber ich wurde enttäuscht, das Ziffernblatt war komplett abgerissen worden, und nur Teile der Mechanik befanden sich noch in dem offenen Gehäuse. Ein 8.000-Euro-Totalschaden am Arm. Ich löste das Armband, schmiss es an Seite und rieb mir das Handgelenk. Rote Striemen markierten die Stelle, wo rohe Kräfte auf meine Uhr und meinen Arm gewirkt hatten.
Eine Verletzung konnte ich nach wie vor nicht feststellen, nur Abschürfungen, aber keine Muskelrisse, Brüche oder tiefere Fleischwunden.
Wiederholt atmete ich aus und erzeugte dabei einen hohen Ton, der meinen inneren Druck, den angestauten Stress abbaute.
„Herr Ochs! Herr Ochs?“
„Ja!“
„Was ist mit Ihnen?“
„Meine Beine, mein Arm, sie waren steif, ich dachte schon, sie wären steif für immer, aber sie waren nur
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