Die Lokomotive (German Edition)
auf und stieß mir empfindlich den Kopf an einer scharfen Kante.
Herr Baehr hörte meinen Fluch, „Was ist passiert?“
„Ich habe mir den Kopf gestoßen“, dabei rieb ich mir mit beiden Händen über die Stelle.
„Haben Sie das Handy gefunden?“
„Nein, verdammt“, fluchte ich. Wieder drehte ich meinen Kopf in Richtung der sich spiegelnden Wasserfläche.
Hast du wirklich überall ganz genau nachgesehen?
Der Krebs beobachtete mich immer noch.
Mit dir rede ich nicht.
„Suchen Sie weiter nach dem Handy.“
„Ich kann das Scheißding nirgends finden“, explodierte ich und erschreckte selbst über meine laute Stimme, „Alles sieht anders aus, ein Teil der Lokomotive hat sich neben mir in den Boden gebohrt, ansonsten erkenne ich kaum die Trümmerteile wieder, die mich vorhin bedeckt hatten, was weiß ich.“
„Ach, so.“
Der Krebs trippelte durch den Schutt in die Dunkelheit der zahllosen Schatten.
Ich war wieder alleine. Erschöpft legte ich mich auf den Rücken. Über mir dieses Chaos aus verbogenem und gerissenem Stahl, hinter dem sich das Rot der Lokomotivenwand verlor.
Eigentlich gab es keine Erklärung für meine kleine Höhle hier. Stützen sah ich keine. Mit Logik war das nicht erklärbar. Trotzdem gab es mich noch.
Ich spürte meine Blase mit solchen Schmerzen, die mich erst an eine unentdeckte Verletzung denken ließen. Sinnlos suchte ich nach einer geeigneten Stelle zum Urinieren. Aber was machte das für einen Unterschied hier? Ich riss mir die Hose auf, rollte mich auf die Seite und streckte meine Hüfte vor, so als würde ich stehen.
Ich hatte noch nie in einem seitlichen Bogen gepinkelt. Ich hatte auch noch nie darüber nachgedacht, wie das wäre.
Schnell sammelte sich der Urin in einer kleinen Lache und das Pinkelgeräusch, welches zuvor durch die verstreuten Gegenstände am Boden gedämpft war, wurde lauter.
„Herr Ochs, hören Sie das seltsame Rauschen?“, fragte Herr Baehr.
Gefangen unter einem entgleisten Zug und trotzdem keine Privatsphäre.
„Ja, Herr Baehr, ich pinkele seltsam“, und wie ich meine Worte so hörte und das Rauchen dazu, musste ich anfangen zu kichern.
Herr Baehr fiel mit ein.
Wir lachten noch, als ich mir meinen Reißverschluss wieder hochzog.
Herr Baehr stöhnte vor Schmerz, und wir wurden leise. Ruhe kehrte ein. Es war, als hätten wir uns nichts mehr zu sagen. Dabei kannten wir uns erst, seitdem wir im Bauch dieses Trümmerberges lagen. Wir hatten uns gegenseitig Mut gemacht, wir hatten uns über unser Leben ausgetauscht, abgelenkt, und wir hatten miteinander um Hilfe geschrien und sogar gelacht. Jetzt hing jeder seinen Gedanken nach.
Was gab es noch zu sagen? Vielleicht klang so auch Resignation, wie Stille.
Obwohl ich freilag, hatte sich meine Situation unwesentlich verändert. Weder hatte sich ein Ausgang aus dem Chaos aufgetan, noch hatte ich ein Zeichen von möglichen Rettern bekommen. Immerhin drückte mich kein Gewicht mehr in den Boden, und ich war tatsächlich unverletzt. Hieß das für mich, ich würde so wie ein Hamster im Käfig auf mein Ende warten? Lebendig begraben. Der Gedanke kam mir erst jetzt, ich war lebendig begraben, verdammt dazu, tatenlos mir selber beim Sterben zuzusehen.
Warum ich? Die natürlichste aller Fragen in Krisensituationen. Aber einen Sinn sollte man nicht im Zufall suchen. Selbst an der Börse gab es Ausnahmeverhalten mancher Kursverläufe. Auch wenn es nichts als eine Verkettung purer Zufälle war, wurde die Psychologie in solchen Fällen auf das Äußerste strapaziert, bis ein Theoretiker eine für sich und einige Zuhörer vorgeschobene Erklärung parat hatte, warum dies oder jenes eingetreten war.
Die Kunst lag im vorausschauenden Handeln, dem Kauf oder Verkauf nach erhaltenen und kombinierten Informationen oder Gerüchten.
Sichere Nachrichtenquellen waren Lizenzen zum Gelddrucken. Je mehr desto besser. Egal, ob die Kurse rauf oder runter gingen, wichtig war, es als Erster zu wissen, dann kaufte man eben Calls, wenn der Kurs steigen sollte, oder Puts, wenn es in den Keller ging. Kein Problem. Die Börse hatte nichts mit Spekulation zu tun. Nur für die Moralapostel und die Zocker.
What time is it?, It’s 11.30, we’re supposed to be there by 9…
Wie ein Tier fuhr ich herum in die Richtung, aus der die Stimme kam.
„Das Handy! Herr Baehr, Julias Handy klingelt!“, meine Stimme überschlug
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