Die Ludwig-Verschwörung
ich auf den Brief in ihrer Hand. »Möchtest du ihn nicht öffnen?«
»Ich glaub, ich weiß bereits, was drinsteht.« Sie faltete den Brief und steckte ihn in ihr Mieder. »Es ist eine, wie sagt man …« Maria suchte das richtige Wort. »Eine … eidesstattliche Erklärung. Ludwig hat mir immer wieder versprochen, dass er Leopold irgendwann als seinen eigenen Sohn anerkennt. Doch jedes Mal hat er es von neuem herausgezögert. Ein Bastard im Hause der Wittelsbacher, mit einer einfachen Magd! Es wäre nur ein weiterer Grund gewesen, ihn für verrückt erklären zu lassen.« Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Nun, der Brief wird Leopold ohnehin nichts mehr nutzen. Im Gegenteil, wenn diese Münchner Kanaillen von ihm erfahren, werden sie ihn vermutlich umbringen lassen. Als Ludwigs einziger Sohn hätte er Anspruch auf den Thron, nicht wahr?«
»Nicht, wenn die eidesstattliche Erklärung von einem Wahnsinnigen verfasst wurde. Darauf würden sich Ludwigs Gegner vermutlich stützen.« Ich wog nachdenklich den Kopf. »Aber du hast recht, dieser Bande ist alles zuzutrauen. Wir müssen das Geheimnis wahren. Wenn nötig, auch über unseren Tod hinaus. Wer weiß …« Ich lächelte geheimnisvoll. »Vielleicht kommt irgendwann einmal die Wahrheit ans Licht. Und man wird erkennen, dass Ludwig nicht verrückt war und keinen Selbstmord begangen hat. Dann allerdings könnte dein Sohn Anspruch auf den Thron erheben.«
»Oder sein Sohn, oder vielleicht auch erst sein Enkel.« Maria seufzte. »Ich glaube, der Mord an Ludwig wird niemals aufgeklärt werden. An diesem Netz haben zu viel Mächtige gesponnen.«
»Wir werden sehen.« Ich legte ihr den Arm um die Schultern, die Wolken rissen für einen Augenblick auf, und die Sonne schickte uns einen dünnen Lichtstrahl. »Solange jedenfalls müssen wir diesen Brief verstecken«, sagte ich bestimmt. »Und falls wir sterben, bevor das Geheimnis um Ludwigs Tod gelüftet wird, müssen wir eben dafür sorgen, dass nur diejenigen von dem Versteck erfahren, die ihm nicht schaden wollen.«
»Wie willst du das anstellen?«, fragte sie. »Wie willst du dafür sorgen, dass die eidesstattliche Erklärung nicht in die falschen Hände gerät?«
Ich zögerte, doch dann begann plötzlich ein Plan in mir zu reifen. Ein Plan, so märchenhaft und phantastisch, dass Ludwig sicher daran Gefallen gefunden hätte. Fest drückte ich Marias Hände. In diesem Moment spürte ich, dass uns drei etwas verband. Maria, mich und den König.
»Hast du nicht selbst gesagt, dass es nur wenige gibt, die Ludwig wirklich kannten?«, begann ich. »Die von seinen geheimsten Wünschen, von den vielen Motiven und Symbolen seiner Traumwelt wissen? Von seinen Märchenschlössern und zukünftigen Plänen?« Meine Stimme wurde fester, und ich hob die Hand zum Schwur. »Ich verspreche dir, Maria, ich werde mir ein Rätsel ausdenken, das nur diejenigen lösen können, die den König wirklich verstehen. Keiner der Minister und keiner der Bürokraten, die Ludwig für einen Irren hielten. Allein dieses Rätsel führt zu dem Ort, wo ich die eidesstattliche Erklärung verstecken werde.«
Maria sah mich ratlos an. »Und was soll das für ein Rätsel sein?«
Ich lächelte und zog sie sanft hinunter ins hohe Gras unter der Linde.
»Es wird unsere Geschichte sein, Maria. Unsere und die Ludwigs.« Zaghaft hauchte ich ihr einen Kuss auf die Wange, und ich spürte, wie sie erzitterte. »Und jetzt erzähl mir alles, was du über den König weißt«, flüsterte ich. »Seine tiefsten Geheimnisse und Wünsche. Die ganze Wahrheit. Ich werde ein Rätsel spinnen, das eines Märchenkönigs würdig ist. Und wenn es über hundert Jahre dauert, bis es gelöst wird.«
Wir sanken ins Gras und sahen Wolkengebilde über uns hinwegziehen, die die Form von Fabelwesen hatten.
»Ist das das Ende des Tagebuchs?«, murmelte Sara und kuschelte sich an Steven. Ihr war in dem unbeheizten Thronsaal kalt geworden. Sie fingerte ihre letzte Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Eine kleine Rauchwolke stieg hoch zur Kuppel des Thronsaals.
Steven blätterte um und schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt noch eine letzte Seite. Sie ist fast ein ganzes Jahr später geschrieben worden.«
»Dann lies sie vor«, sagte Sara und machte einen tiefen Zug. »Ich will endlich wissen, wie es endet.«
Mit brüchiger Stimme begann Steven, den letzten Eintrag vorzulesen.
Nachtrag, geschrieben am Morgen des 28. Juli 1887
Dies ist unsere Geschichte.
Das Rätsel
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