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Die Ludwig-Verschwörung

Die Ludwig-Verschwörung

Titel: Die Ludwig-Verschwörung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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Nachnamen seiner Ururgroßmutter Maria, den natürlich auch ihr Sohn trug.« Ächzend holte Onkel Lu tief Luft und sah Steven tief in die Augen. »Herr Lukas … Diese Magd hieß Maria … Berlinger.«
    Steven war plötzlich, als würde ihm jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Ihm wurde schwindlig, und er musste sich an der Wand des Thronsaals abstützen. Er sah seine Eltern vor sich, die kleine staubige Straße mit den Fords, Buicks und Chevys, von denen der Lack absplitterte; den klapprigen Aufzug, der sie zu ihrer winzigen Wohnung in Boston hinaufbrachte; das Namensschild an der Tür mit den schön geschwungenen Buchstaben, die er damals noch nicht entziffern konnte …
    GEORGE W. UND KAREN BERLINGER …
    »Berlinger?«, flüsterte er. »Aber das ist ja …«
    Albert Zöller kramte umständlich in seiner Jacke. Schließlich zog er ein zusammengefaltetes blutbeflecktes Dokument hervor. »Ich habe die komplette Ahnentafel hier bei mir, Herr Lukas. Werfen Sie doch bitte einen kurzen Blick darauf.«
    Zöller schob ihm das Dokument zu, Steven legte das Tagebuch zur Seite und griff danach, als wäre es mit radioaktiver Strahlung verseucht. Langsam entfaltete er den Zettel. Darauf war ein Stammbaum verzeichnet, wie er ihn in alten Büchern schon oft gesehen hatte. Nur waren in diesem Stammbaum Namen aufgelistet, die er teilweise kannte. Sie alle zusammen ergaben eine Art Formel, bei der rechts unten, wie bei einer Rechenaufgabe, die Lösung stand.
    Es war sein eigenerName.

    Wieder zuckten Blitze vor Stevens Augen, alles schien sich plötzlich um ihn zu drehen.
    Die bunten leuchtenden Lampions im Garten der Großeltern, die knisternden Flammen in der Bibliothek, das Buch mit seinen im Wind flatternden Seiten auf dem Parkett … das Mädchen mit den blonden Zöpfen, das mir die Augen auskratzen will, ihr brennendes Kleid …
    »Verstehen Sie, Steven?«, keuchte Albert Zöller. »Ludwigs Sohn Leopold hatte zwei Söhne, einer von ihnen wanderte in die USA aus. Dieser Anton Berlinger ist Ihr Großvater. Sie sind ein direkter Nachkomme von Ludwig II., ebenso wie Luise! Sie ist Ihre Cousine!« Er hustete erneut, Blut tropfte von seinen Mundwinkeln, als er fortfuhr. »Paul wollte mit Ihnen Kontakt aufnehmen, um mehr über Sie in Erfahrung zu bringen, Steven. Als sich die Ereignisse überschlugen, hat er das Tagebuch bei Ihnen versteckt!«
    Zöller seufzte und stieß ein lautes Röcheln aus. »Ich habe in den Staaten recherchiert und sogar einen Privatdetektiv engagiert, weil ich Paul nicht glauben wollte. Und dann stehen Sie plötzlich vor meiner Tür und bitten mich um Hilfe …« Onkel Lu lachte leise. »Ich wollte zunächst sichergehen, dass ich keinem Mörder und Betrüger auf den Leim gehe. Doch es ist alles wahr!«
    Mit einem Mal fühlte sich Steven wie hinter einer Wand aus trübem Glas. Schemenhaft sah er, wie Sara den Mund öffnete und ihn ganz offensichtlich anbrüllte, doch er hörte sie nicht. Seine Hand umklammerte die Ahnentafel wie einen Rettungsring. Langsam ging er zu Boden, und noch immer drückte er das Papier an sich, wie ein sechsjähriges Kind seinen Teddybären. Als wäre es das Letzte, was ihn noch vor dem alles vernichtenden Feuer retten konnte … vor dem wabernden, erstickenden, alptraumhaften Rauch, der sich langsam zurückzog und ihm endlich zeigte, was damals geschehen war; all das, was er so lange verdrängt hatte.
    Das Buch hatte ihn zurück in seine Kindheit gebracht. Auf einmal konnte er sich an alles erinnern …
    … vor ihm ein Labyrinth von Beinen, Frauenbeine mit langen Ballkleidern, Männerbeine in schwarzen Hosen mit Bundfalten, Hände tätscheln Steven über den Kopf, jemand schiebt ihm einen Teller mit grünem Wackelpudding zu. Sie alle sprechen die abgehackte Sprache seiner Mutter, die so anders klingt als das weiche Englisch des Vaters. Sie klingt wie brechendes Holz im Wald, wie die grusligen Märchen, die Mama immer erzählt.
    Steven ist langweilig, er ist gerade sechs geworden, und es gibt keine Spielkameraden. Nur einen Haufen öder Erwachsene und ein größeres, etwa zehnjähriges Mädchen mit langen blonden Zöpfen in einem weißen Kleid, das ihn böse ansieht und sich hinter ihrem Vater versteckt … Ihren Namen hat Steven vergessen; Daddy sagt, sie sei seine Cousine, und sie sollten schön miteinander spielen, aber Steven will nicht mit ihr spielen. Das Mädchen macht ihm Angst, ihre Augen funkeln wie glühende Kohlen. Er rennt hinaus auf den Flur, weg von dem

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