Die Ludwig-Verschwörung
Mädchen, die breite Wendeltreppe hinauf …
Die Klänge von Klavier und Geigen dringen bis hoch in den ersten Stock. Steven hört das teils schrille, teils dröhnende Lachen der Gäste, das Klappern des Bestecks, das Klirren der Gläser, doch es wird leiser und dumpfer, je mehr er sich der Bibliothek am Ende des Flurs nähert, seinem Spielzimmer, seiner staubigen Burg. Manche von den Büchern hier sind teurer als ein Auto, hat sein Vater mal erzählt. Eines von ihnen ist sogar unersetzlich. Du wirst es einmal erben, aber frag jetzt nicht, lass Daddy in Ruhe lesen …
Steven drückt gegen die hohen Türflügel, und sie öffnen sich quietschend; alles ist dunkel, der Lichtschalter ist viel zu weit oben … Aber Steven hat einen Lampion bei sich, einen bunten Garten-Lampion mit einer Kerze drin, die ihm den Weg leuchtet.
Hoch ragen die Regale vor ihm auf, er riecht den Staub zwischen den Buchseiten, er will weiter diese bunten Tiergeschichten lesen von dem Mann mit dem lustigen Namen. Oder das Märchen mit den sieben Geißlein und dem Wolf … An seiner rauen Stimme und an seinen schwarzen Füßen werdet ihr ihn erkennen …
Plötzlich erblickt Steven über Vaters Lehnstuhl das Bild eines alten Mannes mit strengen stechenden Augen und einem riesigen Schnurrbart, er hat es schon öfter dort gesehen, doch diesmal steht es ein wenig von der Wand ab, wie eine kleine Tür, die nur einen Spaltbreit geöffnet ist …
Vorsichtig klappt Steven das Bild zur Seite, dahinter ist eine zweite Tür aus Eisen, auch die steht offen, und darin ist ein hübsches Schatzkästchen mit einem alten Buch drin, auf dem ein weißer Schwan prangt. Es sieht aus wie ein Zauberbuch. Steven muss seine Eltern unbedingt fragen, ob sie ihm das Kästchen schenken, damit er seine Plastikritter hineintun kann.
Er schlägt das Buch auf, und etwas ist seltsam, es sind Buchstaben darin, die er noch nicht kennt, sie sehen aus wie Zauberzeichen, vielleicht ist es wirklich ein Zauberbuch. Steven hält den leuchtenden Lampion näher an die Buchstabenkringel, er will wissen, was dort steht, er ahnt, dass es etwas sehr, sehr Wichtiges sein muss. Das ist das Buch, von dem sein Vater immer gesprochen hat …
Mit einem Mal spürt Steven einen Lufthauch hinter sich. Er dreht sich um, und da steht dieses Mädchen von unten aus dem Saal, mit ihren langen blonden Zöpfen, in ihrem weißen Kleid. Mit spitzen Fingern deutet sie auf das Schatzkästchen am Boden und auf das Buch mit dem weißen Schwan in seinen Händen. Gib’s her!, kreischt sie, es gehört dem Großvater! Gib’s her, du Bastard, du Hundsfott, du Dieb!
Sie stürzt sich auf Steven und greift nach dem Buch, doch er nimmt es ihr weg. Sie fallen auf den Boden, und sie zerkratzt sein Gesicht. Steven schreit, ihre Fingernägel bohren sich in seine Augenlider, wie mit Nadeln sticht sie mit ihren spitzen Fingern in seine Augen, grüne und gelbe Blitze zucken durch seinen Kopf … Du Bastard, du dreckiger Dieb! Gib’s her! Gib’s her!
Mit einem Mal schreit sie vor Schmerz auf, sie rollt sich zur Seite, und Steven sieht kleine Flammen am Saum ihres Kleides züngeln. Der Lampion mit der flackernden Kerze liegt zerdrückt neben ihr. Das Mädchen kreischt und wälzt sich hin und her, die Bücher um sie herum fangen Feuer. Immer mehr Bücher in den Regalen und auf dem Schreibtisch setzt das Mädchen in Brand. Wie ein vom Himmel fallender Engel sieht das Mädchen jetzt aus, wie ein Engel in einem Fegefeuer aus Büchern …
Grauer Rauch steigt auf und hüllt die Regale ein, Steven greift nach dem Zauberbuch, er steckt es in das Holzkästchen und rennt hinaus auf den Gang, auf ein Fenster zu, er rutscht mit dem Schatzkästchen in der Hand am Efeu entlang hinunter in den Garten. Nur weg von hier, weg von den knisternden fauchenden Büchern, weg von dem Mädchen mit dem brennenden Kleid!
Endlich taucht vor ihm am Rande des Gartens das verfallene Teehaus auf, Steven stößt die schiefe Tür auf, er krabbelt wie ein Baby auf allen vieren hinein und verkriecht sich unter dem Tisch. Mum und Dad werden böse sein, dass er gezündelt hat, die Bibliothek ist ihr größter Schatz, sagen sie immer, sie werden ihn schimpfen. Steven kriecht tiefer hinter die staubigen zusammengeklappten Gartenstühle und hinter die modrig riechenden, zu Stapeln aufgetürmten Tischdecken im Teehaus, er hält sich an dem Schatzkästchen fest. Er ist ein Stein, ein stummer Stein in der Erde, den keiner sieht.
Jetzt sind plötzlich viele
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