Die Ludwig-Verschwörung
versucht gewesen, um Hilfe zu rufen. Doch höchstwahrscheinlich hätte das nicht nur ihn, sondern auch das unschuldige ältere Pärchen das Leben gekostet.
Schwer atmend von der harten Arbeit setzte er sich auf einen Felsen neben dem Baum und beobachtete, wie Luise und Tristan wahllos Löcher in den Burghof gruben, wobei die Konzernchefin immer wieder laut schrie und fluchte. Sie war mittlerweile dazu übergegangen, von sich selbst im Pluralis Majestatis zu reden. Überhaupt schien sie von Minute zu Minute irrer zu werden. Immer mehr erinnerte sie Steven an das zehnjährige trotzige Mädchen, das schrie, zeterte und ihm die Augen auskratzen wollte. Es schien, als merkte Luise überhaupt nicht, wie sinnlos all ihre Bemühungen waren.
»Der Brief wird einen besonderen Platz in Unserem Schloss einnehmen«, keuchte sie und schlug mit der Hacke so heftig in den Felsen, dass Steinsplitter aufspritzten. »Gleich neben Unserem Bett oder vielleicht im Thronsaal neben dem Bild des heiligen Georg. Wir werden eine Kapelle bauen lassen, eine Gruft für die würdigen Nachfahren Ludwigs!«
»Wo steht eigentlich dein hübsches Schloss?«, rief Steven ihr zu. »Merkwürdig, dass ich noch nie davon gehört habe. Muss ja ziemlich groß sein, wenn alle Möbel Neuschwansteins da reinpassen.«
»Das geht dich einen feuchten Kehricht an!«, schrie Luise. Ihr graues Kostüm war vom verbissenen Graben zerrissen und verschmutzt, die Haare standen ihr wirr ums Gesicht. Sie sah aus wie ein tobender kleiner Gnom mit einer Spitzhacke.
Wie Alberich auf der Suche nach dem Rheingold, dachte Steven. Aber ich bin weder Wotan noch Siegfried.
Nachdenklich fuhr er mit dem Finger durch die mit Wurzeln durchsetzte Erde unterhalb des verkrüppelten Baumes. Verrottete Herbstblätter blieben an seiner Hand hängen. Er zerrieb sie und ließ sie zu Boden rieseln. Es waren braune welke Lindenblätter, mit der typischen Herzform.
Plötzlich hielt er inne.
Lindenblätter …
Konnte das möglich sein? Prüfend sah Steven an dem Baum zu seiner Linken empor, er wirkte alt, bestimmt hatte er beinahe zweihundert Jahre auf dem Buckel. Die Linde musste schon hier gestanden haben, als Marot auf der Suche nach einem Versteck in Falkenstein gewesen war.
Aber sie war merklich kleiner gewesen …
Noch einmal ging Steven der Lösungssatz des Rätsels duch den Kopf.
In dem vierten Schloss des Königs zeugt ein Spross vom liebsten seiner Schätze …
Steven spürte das Blut in seinen Schläfen pochen, seine Kehle schien mit einem Mal trocken wie ein Stück Papier. Sie waren immer davon ausgegangen, dass Spross für Leopold, den Sohn Ludwigs, stand. Was aber, wenn Spross etwas anderes war, nämlich ein kleines Bäumchen, ein junger Trieb, aus dem irgendwann einmal ein starker Stamm werden würde?
Eine mächtige Linde.
Steven sah Theodor Marot vor sich, wie er, in Gedanken an seine Liebste, auf den Gipfel gepilgert war. Er stellte sich vor, wie dem jungen Mediziner all die schönen Momente mit Maria noch einmal durch den Kopf gegangen waren. Die Umarmungen, der einzige Kuss, der Ort, an dem alles angefangen hatte.
Die Linde … Es zeugt ein Spross …
Tief grub Steven die Hände in den welken Haufen Blätter und wühlte in der Erde darunter, sein Herz begann schneller zu schlagen. Seine Finger glitten wie von selbst über die Wurzeln hinauf zum Stamm, bis sie in winzigen Kerben haltmachten, die jemand vor langer Zeit in den Stamm geritzt haben musste. Es waren Buchstaben, krumm und von der jährlich wachsenden Rinde beinahe verdeckt, doch Steven erkannte sie, ohne hinzusehen.
Maria.
Unwillkürlich musste Steven lächeln. Der Anfang und das Ende, hier in Falkenstein schloss sich der Kreis. Die Reise war zu Ende, und der Brief …
Er spürte den Blick im Rücken wie die Spitze eines Pfeils. Als er sich langsam umdrehte, sah er Luise im Burgeingang stehen. Sie stützte sich auf ihre Hacke und kicherte wie ein wahnsinnig gewordener Erdgnom.
»Ich wusste, dass du mich zum Versteck führen würdest, liebster Vetter«, sagte sie und deutete auf die Linde, die Steven noch immer umklammert hielt. »Eigentlich hätte ich selbst draufkommen müssen.« Sie schüttelte lachend den Kopf. »Ein Spross, der von Ludwigs Sohn zeugt! Dieser Theodor war wirklich ein Poet.« Von einem Augenblick auf den anderen verwandelte sich ihr Gesicht in eine erstarrte Fratze, mit schmalen blutleeren Lippen wandte sie sich an ihre beiden Begleiter.
»Tristan und Galahad, wir brauchen
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