Die Ludwig-Verschwörung
schlug die erste Seite des Tagebuchs auf, und sofort umfing ihn wieder dieses Gefühl der Vertrautheit, gepaart mit einer scheinbar unbegründeten Angst. Seine Kehle schnürte sich zusammen, und er verspürte einen leichten Brechreiz. Was war mit diesem Buch? War es doch ein Zauberbuch? Oder sah er einfach schon Gespenster?
Mühsam kämpfte er sich Wort für Wort voran. Anfangs musste er bei jedem Satz noch die ›Tachygraphy‹ bemühen, doch mit der Zeit ging es immer schneller. Er arbeitete sich durch die Zeilen wie eine Sense durch hohes Gras. Gelegentlich konnte er gewisse Wörter und Zeilen nicht ganz entziffern, dann versuchte er, deren Sinn zu rekonstruieren. Wort für Wort, Absatz für Absatz schrieb Steven in einen Notizblock auf Saras Schreibtisch, wobei sich sein eigener Stil mit der altertümlichen Ausdrucksweise des Assistenten vermischte.
Für die nächsten Stunden tauchte Steven völlig ein in die Welt des Theodor Marot – eine Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die dem Antiquar manchmal so fern erschien wie ein anderer Planet. Vor seinem inneren Auge rollten ratternde Pferdedroschken durch enge schmutzige Gassen, Herren in Frack und Mantel zogen höflich den Zylinder, Frauen in Korsett und aufgebauschten Röcken wiegten sich im Takt eines Walzers von Johann Strauss. Steven sah märchenhafte Schlösser, festliche Bankette, schimmernde Grotten, er hörte das schrille Kichern eines melancholischen Königs und die schmetternde Musik Richard Wagners, er roch den Duft von Tausenden im Ballsaal entzündeten Kerzen, schmeckte hundertfünfzig Jahre alten Bordeaux.
Vor allem aber spürte Steven, dass dieses kleine abgegriffene Notizbuch im Begriff war, ihm etwas Ungeheuerliches mitzuteilen. Ein Geheimnis, das zuvor nur ein kleiner Kreis Auserwählter gekannt hatte. Ein Geheimnis, das sich der Assistent des königlichen Leibarztes wie in einer Beichte von der Seele geschrieben hatte.
Fast glaubte der Antiquar, zwischen den einzelnen Zeilen noch immer Theodor Marots Angst durchschimmern zu sehen, wie Spuren ausgewaschenen Bluts auf einer scheinbar weißen Weste.
8
Berg, den 21. Juni 1886
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M ein Name ist Theodor Marot.
Ich bin Assistent des königlichen Leibarztes Dr. Max Schleiß von Loewenfeld und ein wahrer Freund des Königs, von denen Seine Majestät viel zu wenige hatte. Wir haben versucht, ihn zu retten, doch wir haben versagt. Tränen fallen auf die Seiten wie Löschsand, doch auch sie können nicht ungeschehen machen, dass der König tot ist und seine Feinde gesiegt haben. Mögen diese Aufzeichnungen helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, auch wenn sie noch so schmerzvoll ist.
Während ich dies hier schreibe, versammeln sich die Mächtigen des Landes zum Totenmahl in der Residenz, wo sie wie die Krähen über Ochsenschweifsuppe, Kalbsrücken und Rehbraten herfallen werden. Sie werden sich die fettigen Mäuler wischen und sich beim Kaffee gegenseitig für ihr Ränkespiel beglückwünschen. Denn der König ist tot, und sein Geheimnis hat er mit ins Grab genommen. Nur wir wenigen wissen, was wirklich geschehen ist, und sollten die Minister irgendwann davon erfahren, droht uns allen der Schuss aus dem Hinterhalt. Erst wenn der Letzte von uns Ludwig ins Grab gefolgt ist, können sie sicher sein, dass nichts mehr an die Öffentlichkeit gelangt, dass sie ungestört weiterregieren können. Und ihre Marionette, den Prinzregenten, schicken sie zum Jagen und Wandern, während die Herren die große Politik machen.
Am Samstag, vor zwei Tagen, haben sie den König in der Münchner St.-Michaels-Kirche beigesetzt. Obwohl Dr. Loewenfeld in den Augen der Minister vermutlich ein dreckiger Verräter ist, durften wir beide zusammen mit den anderen Ärzten den Trauerzug begleiten. Das war wohl eine letzte Gnade, ehe sie Loewenfeld aufs Altersteil abschieben und mich selbst zum Abschuss freigeben.
Die herrschaftliche Briennerstraße war an diesem Tag so voll von Menschen, dass der von acht schwarzen Rössern gezogene Leichenwagen kaum vorankam. Viele Leute weinten, die Geschäfte waren allesamt geschlossen, und aus den Fenstern hingen schwarze Fahnen, die ein Gewitterwind hin und her peitschte. Es war, als wollten die Münchner ihrem König an einem halben Tag all die Liebe geben, die sie ihm die letzten Jahrzehnte verweigert hatten. Doch nun war es zu spät.
Was hätte Ludwig wohl gesagt, wenn er mit ansehen hätte müssen, wie das Militär im Stechschritt und mit goldenen Trassen seinem
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