Die Lüge im Bett
überrascht. Ganz so farblos, wie sie befürchtet hat, wird der Dreh also nicht werden. Gespannt, aber auch etwas beunruhigt, weil es nach Regen aussieht, steigt sie in den Bus ein.
Sie sind kaum zehn Minuten unterwegs, da fängt es an zu schütten, wie es nur in den Tropen gießen kann. Der Bus schlingert, bleibt zeitweise einfach stehen. Sturzbäche rauschen über die Straßen.
Nina verkriecht sich in ihren Laptop und schielt immer wieder zu Nic, der anscheinend ungerührt nach draußen starrt. Nina schaut auf ihre Armbanduhr. Schon fast elf. Um zehn wollten sie dort sein. Um Mitternacht packen die Tänzer alles zusammen.
Nina schaut schräg nach vorn zu Nic. Warum hat er sich nicht neben sie gesetzt? Sie hätten manches miteinander besprechen können!
Sie mustert ihn von Kopf bis Fuß. Er hat so eine zurückhaltende, fast aristokratische Ausstrahlung. Sie holt tief Luft. Dieses klassische, edle Profil. Eine gerade, ebenmäßige Nase, ein kräftiges Kinn. Das weist auf Durchsetzungsvermögen hin. Sagt ihre Mutter. Die hat sie stets vor fliehenden Kinnen und dünnen Lippen gewarnt. Er hat keine dünnen Lippen. Sie sind geschwungen, sinnlich.
Ob er verheiratet ist? Kinder hat? Sicher. Sie schätzt ihn auf Mitte Dreißig. Zumindest wird er eine Freundin haben. Ein blondes Klasseweib, groß, schlank, biegsam, intelligent, reich! Mist! Und sie sitzt da und träumt ihn sich zurecht!
Sie zieht die Beine hoch, umschlingt sie mit den Armen. Der Regen platscht vom Busdach am Fenster herunter, sie fühlt sich wie hinter einem Wasserfall.
Als sie endlich ankommen, ist es fast Mitternacht. So plötzlich, wie der Regen begonnen hat, hat er auch wieder aufgehört. Die Erde dampft, und der Lehmboden vor der Sambaschule hat sich in zähen Schlamm verwandelt. Nina und Nic balancieren vorsichtig über die ausgelegten schwimmenden Bohlen zum Toreingang, um die Lage zu inspizieren. Die Schule besteht eigentlich nur aus hohen gekalkten Mauern. Eine Art Vorhof zu einem kleinen, überdachten Gebäude, das sich längsseitig anschließt. Könnte auch ein Gefängnishof sein, überlegt Nina.
Frauen in weißen Rüschenkleidern tanzen zu ohrenbetäubenden Klängen. Ihre Röcke bauschen sich in der Bewegung, fächern sich in viele Unterröcke auf, wippen nach vorn und hinten, es wirkt wie ein grandioses Hochzeitsfest mit unzähligen ausgeflippten Bräuten. Ein weiß gekleideter Mann kommt auf sie zu, sagt etwas, aber es ist unmöglich, ihn zu verstehen. Gemeinsam gehen sie hinaus. Er versucht ihnen klarzumachen, daß die Tänzer gleich aufhören würden. Leider seien sie zu spät dran. Nina erklärt die Situation und beschwört ihn, eine halbe Stunde weiterzumachen. Sie spürt, wie Nic sie groß anschaut. Es ist ihr auch klar, daß in einer halben Stunde das Licht sicherlich noch nicht aufgebaut ist, aber irgendwo muß sie ja ansetzen. Ihr Gegenüber zuckt die Achseln und geht.
»Heißt das jetzt ja oder nein?« fragt Nina ratlos Nic, aber der zuckt auch nur die Achseln. Er schaut zum Bus, wo alle untätig herumstehen und nicht wissen, was sie nun tun sollen.
»Na, schön, gehen wir's an!« Nic gibt ihnen einen Wink, und Leo und die anderen beginnen die technische Ausrüstung auszupacken, im Nu umlagert von jungen Brasilianern. In der Zwischenzeit versuchen Nina und Nic, im Innenhof mit den Tänzern ins Gespräch zu kommen. Zwei schlanke junge Männer bringen zwei aufwendige Kostüme, fragen, ob sie die für die Dreharbeiten anziehen sollten. Nina ist begeistert. Wird aber lange dauern, deutet der eine an. Das ist Nina sehr recht, je länger, desto besser. Sie beobachtet, wie Herbert zusammen mit Gerd, dem Assistenten, Licht setzt, und ist froh darüber, daß sie so viel Material dabeihaben.
Da sieht sie, wie Leo durch die Menschenmenge rennt. Und Leo rennt nur dann, wenn die Apokalypse droht. Offensichtlich sucht er sie. Nina läuft ihm entgegen. »Der Bus ist weg!« schreit er. Das kann sie selbst durch den tosenden Lärm hindurch verstehen.
»Weg?«
»Weg! Mit der anderen Hälfte des Lichts drin. Und dem Generator. Keine Ahnung, was das soll!«
Nina stürzt wieder mit ihm hinaus. Der Bus ist weg. Tatsächlich. An seiner Stelle stehen Herbert und Gerd und spähen angestrengt die dunkle Straße hinab. Nina fragt die herumlungernden Jungen auf englisch, erntet aber nur Achselzucken.
»Das kann doch nicht sein, daß der einfach mit unserem Bus abhaut. So etwas gibt es doch nirgends!« Wütend und hilflos steht Leo mitten im
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