Die Lüge
und erstem Stock hin und her, schleppte auf einem Arm ihren Pascal, auf dem anderen die Bügelwäsche. Sie knabberte an einem Toast, spülte die Bissen mit viel Kaffee hinunter und blätterte desinteressiert in der Tageszeitung, bis sie im Lokalteil auf den Artikel aufmerksam wurde, den Andrea kurz zuvor gelesen hatte.
Die Bewohnerin eines Mehrparteienhauses in der Kettlerstraße hatte am späten Freitagabend die Polizei alarmiert, weil sie sich durch Kampfgeräusche und Hilfeschreie aus der Nachbarwohnung belästigt fühlte. Die Frau nahm an, ihr Nachbar habe wie üblich seinen Fernseher zu laut eingestellt.Die Streifenwagenbesatzung fand den Wohnungsinhaber erstochen in seinem Wohnzimmer. Man ging von einem Streit unter Zechbrüdern aus, weil das Opfer kurz zuvor in seiner Stammkneipe eine Schlägerei angezettelt und der Wirt die beiden Kampfhähne an die frische Nachtluft befördert hatte. Hellers Vornamen erfuhr sie auch aus der Zeitung nicht. Da stand nur ein A mit einem Punkt.
Sein gewaltsamer Tod fuhr ihr in sämtliche Glieder und überschattete die Ungewissheit. Nicht, dass sie Heller samstags sonderlich vermisst hätte. Aber die Vorstellung, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits in irgendeinem Kühlfach gelegen hatte …
Sie verließ das Haus, ohne Andrea Bescheid zu sagen. In der Einfahrt parkte ein rostiges Gefährt mit Kekskrümeln, Teeflasche und Kindersitz auf der Rückbank. Aber es war Platz genug, den Alfa auf die Straße zu bringen. Sie fuhr zu einer Bankfiliale, legte Nadias Ausweis vor und behauptete, sie habe sowohl Scheckheft als auch die Karte vergessen, mit der sie Geld vom Automaten hätte holen können. Man stellte ihr einen Scheck zur Verfügung, mit dem sie Nadias Konto anzapfen konnte. Nadias Unterschrift bekam sie glaubwürdig hin, ohne es großartig geübt zu haben. Damit war zumindest das Bargeldproblem vorerst gelöst.
Als sie zurück ins Haus kam, war Andrea im Schlafzimmer dabei, die Bettwäsche zu wechseln. Sie sah es im Vorbeigehen, verschanzte sich hinter dem Schreibtisch, hypnotisierte das Telefon und gab sich den Anschein hektischer Betriebsamkeit am Laptop. Der Anrufbeantworter hatte während ihrer kurzen Abwesenheit kein Gespräch aufgezeichnet.
Andrea und ihr kleiner Sohn verließen das Haus kurz nach zwei, nachdem Andrea sich vergewissert hatte, dass sie nicht zu kochen brauchte und ihre Arbeit am nächsten Tag durchaus erwünscht war. Eine Bezahlung hatte sie nicht verlangt,auch die Wasserpistole nicht zurückgefordert. Und sie wurde fast verrückt in der Stille.
Nadia musste wissen, wann ihre Putzfrau aus dem Haus ging. Aber nichts geschah. Noch ein Versuch bei Alfo Investment. Nur der Anrufbeantworter. Noch ein Versuch auf Hardenbergs Privatanschluss. Helga Barthel kam an den Apparat, wesentlich ruhiger als sonntags. «Gut, dass du dich meldest.»
Philipp hatte sich inzwischen ebenfalls gemeldet und Helga beschwichtigt. Er war in Berlin, im Hotel Adlon, und alles war in bester Ordnung. Helga war beauftragt, Nadia auszurichten, sie möge die Überweisung veranlassen und Philipp anrufen, falls es Probleme mit dem Laptop gegeben hätte.
Sie behauptete, immer noch in Genf zu sein, sich sofort um die Überweisung zu kümmern und keine Probleme mit dem Laptop zu haben. Ein Anruf bei Philipp war danach überflüssig, und wenn er um einen bitten musste, konnte Nadia nicht bei ihm sein. Bei wem dann, und wo? Bei Jacques in Genf? Oder mit Jacques auf den Bahamas? Vielleicht hatte mon chéri sich für das Ferienhaus mit einigen Hektar Strand begeistern können.
Noch ein Versuch bei Nadias Mutter, die diesmal nicht persönlich an den Apparat kam. Minutenlang setzte sie sich mit einem jungen Mann auseinander, der ein Privatsekretär oder der Gärtner sein mochte und kein Wort Deutsch sprach. Er spickte sein Französisch mit einigen Bröckchen Englisch, um ihr unwiderruflich klar zu machen, dass Madame für Jacques nicht zu sprechen war.
«Blödmann», murmelte sie, erklärte lauter und ungehalten: «Jacques will nicht Madame, ich will mit Jacques sprechen! Ich brauche unbedingt seine Telefonnummer.» Und weil das nicht half, raffte sie ihr Schulenglisch zusammen und versuchte es mit: «I am the Sekretärin von Nadia Trenkler. I mustmake a call with Jacques. I must have the number von Jacques’ telefone, please. It is very wichtig.»
Wie sie die Dringlichkeit ihrer Bitte korrekt hätte formulieren können, fiel ihr nicht ein. Aber das kümmerte sie nicht, er konnte es ja
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