Die Lüge
demselben Vornamen, in Frankreich oder der Schweiz gab es vermutlich etliche tausend, die Jacques hießen. Gleichzeitig standen ihr die Urlaubsfotos vom Dachboden vor Augen – und das eine, auf dem Nadia neben dem blonden Adonis am Flügel gesessen hatte. Die Jugendliebe und ein Pianist in der Nachbarschaft. Ihr fiel auch wieder ein, dass Nadia erzählt hatte, Niedenhoff sei erst zu Beginn des Jahres eingezogen. Genau zu der Zeit war der Beckmann gekauft worden – vielleicht als Geschenk zum Einzug? Wie praktisch! Mon chéri direkt vor der Haustür.
Professor Kemmerling stand in der Diele und wartete auf die Karten. «Darf ich Sie noch zu einem Kaffee einladen?», fragte sie. «Ich habe auch eine köstliche Eissplittertorte im Gefrierschrank.»
Er nahm die Karten dankend entgegen und ihre Einladung erfreut an. Dann saß er ihr am Esstisch gegenüber, und es wurde trotz ihrer Nervosität, den gravierenden Wissenslücken und dem drängenden Bedürfnis, quer über die Straße zu laufen und gegenüber zu klingeln, eine aufschlussreiche Stunde.
Danny Kemmerling verzehrte mit gutem Appetit zwei Stück Eissplittertorte und bestritt die Unterhaltung praktisch alleine. Zuerst erzählte er, dass er den Aufenthalt seiner Frau in Malta genutzt habe, um sich einen neuen Computer zu kaufen. Nun verfügte er ebenfalls über einen P vier, sogar mit drei Komma vier Gigahertz. Dann kam er auf die Arbeit im Labor und auf Michael zu sprechen.
Zurzeit befanden sie sich in einer kritischen Entwicklungsphase. Da sei ein wenig Nachsicht angebracht, meinte er. Was sie entwickelten, erklärte er nicht, betonte nur, dass Forschungsarbeit ohne Männer wie Michael in der heutigen Zeit ein Ding der Unmöglichkeit sei. Damit änderte sich seinfreundlicher Plauderton. Er warf die Frage auf, wozu man einem Mann eine so kostspielige Ausbildung finanzierte, wenn man schon nach wenigen Jahren gar nicht mehr erbaut davon war, dass er seinen Beruf auch ausübte. Ein Mann von gerade mal fünfunddreißig Jahren, tüchtig, ehrgeizig und kompetent, sollte sich für den Rest seines Lebens faul in die Sonne legen? Gegen kleine Ferienhäuser waren wirklich keine Einwände zu erheben. Ab und zu ein bisschen Entspannung am Strand oder auf See, aber für mehr war Michael nicht geschaffen, er würde verkümmern wie eine Pflanze ohne Wasser.
Sie begriff wohl, was er mit seinem Vortrag bezweckte. «Ich weiß nicht, wie er auf diesen Gedanken gekommen ist», sagte sie. «Ich habe wirklich nicht vor, ihn zur Kündigung zu bewegen. Dafür ist mir mein eigener Beruf viel zu wichtig. Ich habe doch nicht zu meinem Vergnügen zwei Computer da oben stehen.»
Nach dieser Einleitung machte sie sich daran, Danny Kemmerling für den Laptop zu begeistern, wollte ihn gerade herunterholen, ihn damit hantieren lassen und ihm aufmerksam auf die Finger schauen, um herauszufinden, wie man mit dem Arbeitsprogramm umgehen musste, als Michael unerwartet heimkam.
Er betrat das Esszimmer mit einer Miene, in der sich Unbehagen spiegelte. «Herr Professor, was machen Sie denn hier?» Auch so eine Unart, fand sie. In Gegenwart des Betreffenden respektvoll mit Titel und ansonsten nur Kemmerling. Wie sollte man da einen Zusammenhang herstellen!
«Kaffee trinken», antwortete Danny Kemmerling und erkundigte sich, ob Jutta ebenfalls schon den Heimweg angetreten habe. Als Michael bejahte, erhob er sich, bedankte sich noch einmal bei ihr für Kaffee, Torte und den unterhaltsamen Nachmittag. «Ich habe zu danken», sagte sie und begleiteteihn zur Haustür. Als sie zurück ins Esszimmer kam, hatte Michael gerade bemerkt, dass die Kaffeekanne leer war.
«Ich mache dir frischen», bot sie an.
«Bemüh dich nicht. Was wollte Kemmerling hier?»
«Karten für das Niedenhoff-Konzert.»
«Verdammt nochmal, Nadia!», fuhr er sie an. «Hör auf mit den Mätzchen! Hast du ihm wieder was vorgejammert? Wenn du dir einbildest, du kannst mich im Labor unmöglich machen …»
Sein barscher Ton schleuderte sie zurück in die Scherben einer Ehe und die Ungewissheit. «Das besorgst du doch selbst! Du hättest dich sehen müssen gestern! Wie ein liebestoller Pavian!»
Damit ließ sie ihn stehen und ging ins Arbeitszimmer. Eine Viertelstunde blieb sie ungestört. Als Michael hereinkam, hatte sie bereits festgestellt, dass sowohl sämtliche Karteikarten als auch die neun Alin-Briefe verschwunden waren. Nadia hatte scheinbar alles gelöscht, was irgendwie von Bedeutung war. Die Entdeckung legte sich
Weitere Kostenlose Bücher