Die Lüge
hatte sich gerade von Alina getrennt, das hielt sie für eine günstige Gelegenheit. Du weißt eine Menge über Nadia, aber längst nicht alles. Nun schau mich nicht so entgeistert an, ich bin nicht Nadia. Ich bin nur ihre Vertretung. Du wolltest doch wissen, wer Susanne Lasko ist. Sie sitzt neben dir.
Aber sie war zu erschöpft. «Warum hast du mich gestern nicht fahren lassen?», fragte sie. «Es kann dir doch egal sein, ob ich mich absetze.»
Er schüttelte den Kopf und tippte sich gegen die Brust. «Ich bin derjenige, der sich absetzt. Das bin ich mir schuldig.» Dann schaltete er den Fernsehton wieder ein.
Wenig später lag sie im Bett und weinte sich in den Schlaf. Kurz nach drei erwachte sie. Das Bett neben ihr war leer, und zuerst wusste sie nicht, was sie geweckt hatte. Dann wiederholte es sich. Im Arbeitszimmer klingelte das Telefon. Mit einem Satz war sie aus dem Bett und stolperte von heftigem Schwindel geplagt zur Tür. Sie erreichte den Schreibtisch indem Moment, als Michael aus einem der Gästezimmer kam und unwillig ins Licht blinzelte. Sie kümmerte sich nicht um ihn, riss den Hörer ans Ohr, ehe die Ansage des Anrufbeantworters abgelaufen war. Auf ihr geschluchztes «Nadia?» hörte sie ein Lachen und eine angetrunken klingende Stimme. «Hello, my dear.»
Es war ohne Zweifel eine Frau. Ob es Nadia war, hätte sie nicht sagen können nach der kurzen Begrüßung in einer fremden Sprache. Und mehr zu sagen, schaffte die Frau nicht. Eine Männerstimme mischte sich ein, ebenso angetrunken klingend und mit einem englischen Wortschwall über sie herfallend. Sie verstand nur: «Big Surprise», und «is Phil».
«Philipp?», fragte sie verwirrt.
Michael stand längst neben ihr, riss ihr wutentbrannt den Hörer aus der Hand und brüllte los: «Geht es Ihnen gut, Hardenberg? Aber nicht mehr lange, dafür sorge ich.» Seine Miene änderte sich schlagartig. Er lachte verlegen. «Sorry, Phil. That was not for you. What a surprise – in the middle of the night. What’s the time in Baltimore?» Dann erkundigte er sich überrascht: «You are where?»
Sekundenlang stand sie noch neben ihm, hörte sich an, wie er freudig und fließend eine Unterhaltung bestritt, von der sie gerade mal die Hälfte verstand. Als er kurz erklärte: «Es ist Phil», was ihr auch nicht weiterhalf, ging sie zurück ins Bett, zog sich die Decke bis zum Hals und zitterte trotzdem beim Gedanken an die Zukunft.
Scheidung! Und fünfzehnhundert im Monat. Natürlich klang es verlockend. Aber sie konnte das nicht, ihn die Rechnung zahlen lassen, die Nadia aufgemacht hatte. Auch nicht für das Kind, das hatte er ja nicht mit Absicht gemacht, nicht mal aus Versehen, sondern im festen Glauben, mit seiner Frau zu schlafen, die genau wusste, dass er keine Kinder wollte, und wohl entsprechende Vorsorge traf.
Also zurück in die schäbige Wohnung, Heller würde sie dort ja nicht mehr belästigen. Zurück in die Confiserie, mit Frau Schädlich ein Gespräch unter vier Augen führen, die freien Tage der nächsten Wochen für einen Klinikaufenthalt zusammenfassen und sich das neue Leben aus dem Leib saugen lassen. Noch war es dafür nicht zu spät. Und es gab keine andere Lösung.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Er hatte seinen Wecker mit ins Gästezimmer genommen. Und sie fürchtete, wieder erst um neun aufzuwachen, wenn sie noch einmal die Augen schloss. Bis sie die Dusche im Gästebad hörte, schaute sie mit offenen Augen ins Dunkel, wischte hin und wieder einige Tränen von den Wangen. Dann stand sie auf und ging ebenfalls unter die Dusche. Er nutzte die Zeit, um sich Kleidung zu holen, ging ihr demonstrativ aus dem Weg. Vielleicht war es gut so.
Sie verzichtete aufs Make-up, schlüpfte in die Sachen, die sie donnerstags getragen hatte. Sie waren zerknittert, doch wen störte das noch? So passten sie zu ihr. Als sie in die Küche kam, war er längst aus dem Haus. Die beiden Zeitungen lagen auf dem Tisch. Sie nahm sich ein paar Minuten, um im Lokalteil nach einem weiteren Artikel über Heller zu suchen. Es gab keinen.
Der gewaltsame Tod eines vorbestraften Alkoholikers wurde von einer neuen Schreckensmeldung verdrängt. Am Sonntagnachmittag hatte ein vierzehnjähriger Junge im Müllcontainer eines Asylantenwohnheims eine weibliche Leiche gefunden. Dem ersten Anschein nach ein Verkehrsunfall, nach dem der verantwortliche Fahrer sich bemüht hatte, sein Opfer und sämtliche Spuren zu beseitigen. Furchtbar, doch es berührte sie nicht
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