Die Lüge
sagen: «Nun reg dich nicht auf, es war nicht deine Schuld. Und etwas Besseres hätte dir nicht passieren können. Trenkler war ein großer Risikofaktor. Verkauf das Haus, dann hast du ausgesorgt.» Dieter war immer ein Idiot gewesen, auch wenn er meist Recht hatte mit seinen Ansichten.
Der Schleier vor ihren Augen war Wasser. Und sie spürte noch einmal, wie es ihr über dem Kopf zusammenschlug, wie Michael sie an sich riss, wie er sie küsste. Und Paris! Er war so glücklich gewesen, so voller Pläne und Freude auf sein Kind.
Philipp Hardenbergs Haus lag in der Dunkelheit hinter einer mannshohen, fast kahlen Hecke. Unter ihren Füßen knirschte Kies. Das hörte sie. Zurkeulen war fünf oder sechs Schritte hinter ihr. Von ihm hörte sie nichts. Er hielt sich auf dem Rasen. Sie sah kaum etwas und fühlte nur den eisigen Wind auf den Tränenspuren.
Zurkeulen wollte sie leben lassen, wenn sie ihm zu seinem Geld verhalf, hatte er versprochen. Und er war überzeugt, dass sie leben wollte. Für ihr Kind lohne sich das auch ohne Mann, meinte er. Es lohne sich seiner Meinung nach umso mehr, wenn er ihr demonstriert hatte, wie er mit Betrügern zu verfahren pflegte. Das kleine Messer wollte er nur bei Philipp Hardenberg einsetzen. Helga Barthel sollte einen raschen und schmerzlosen Tod haben. Er hasste es, einer Frau unnötige Schmerzen zufügen zu müssen. Derartiges überließ er Ramon, er mochte sich solche Widerwärtigkeiten nicht einmal anschauen.
Noch fünf Schritte bis zur Haustür. Alles war dunkel. Sie stolperte über die erste Stufe, fing den Sturz an der Hauswand ab und bewältigte zwei weitere Stufen, ohne sich dessen bewusst zu werden. Es gab wohl irgendwo einen Klingelknopf, doch in der Dunkelheit war er nicht zu finden. Und von Bewegungsmeldern, die das Licht einschalteten, schien PhilippHardenberg nichts zu halten. Sie klopfte gegen die Tür und drehte sich nach Zurkeulen um. Aber da waren nur zwei hohe Nadelbäume auf dem Rasen.
Sie hörte, dass die Haustür geöffnet wurde. Hell wurde es nicht. Eine Hand schoss vor, griff nach ihrem Arm und zerrte sie in eine Diele – es war wie eine Wiederholung des Probesonntags. Ehe sie begriff, was passierte, war die Tür wieder zu. Sie fühlte einen Arm um die Taille, eine Hand auf dem Mund und Atem am Ohr. «Sind Sie in Ordnung?», wisperte eine fremde Männerstimme. Irgendwie gelang es ihr zu nicken.
Vor dem Haus blieb es still. Insgesamt war es still, nur aus irgendeinem Winkel in der Dunkelheit drang verhaltenes Stöhnen. Sie meinte auch, ein beschwörendes Flüstern zu hören. Die Hand vor ihrem Mund gab ein wenig Spielraum, als der Fremde in ihrem Rücken seine Position veränderte.
«Michael.» Sie spürte das Schluchzen in der Kehle, konnte es nicht unterdrücken. «Ramon hat meinen Mann umgebracht.» Ihre Schultern zuckten im Griff des Fremden, wie Andreas Schultern es auf dem Flur getan hatten.
Die Hand verschloss ihr den Mund erneut. Die Stimme hinter ihr wisperte: «Ihrem Mann geht es gut. Frau Gerling auch.» Damit musste Andrea gemeint sein. In dem Moment fühlte sie nur noch, dass ihre Knie nachgaben. Aber der Fremde hielt sie. Sie standen immer noch dicht bei der Haustür in völliger Dunkelheit.
Ganz in der Nähe knisterte etwas, eine verzerrte Stimme sagte: «Er verzieht sich.» Ein paar Minuten später sagte die verzerrte Stimme: «Ihr könnt Licht machen.»
Die Hand löste sich von ihrem Mund, der Arm um ihre Taille gab sie frei. Es wurde hell in der Diele. Sie drehte sich langsam um und sah sich einem Mann im grauen Anzug gegenüber. Auch im Wohnzimmer wurde Licht eingeschaltet.Für einen flüchtigen Moment sah sie ein Paar dunkelblaue Hosenbeine hinter einem Tisch vorragen. Sie waren zu zweit im Haus. Ein Mann in der Diele, der andere kümmerte sich im Wohnzimmer um Helga Barthel und Philipp Hardenberg. Der dritte befand sich auf der gegenüber dem Grundstück liegenden Baustelle. Der Mann im grauen Anzug öffnete die Haustür. Sein Kollege kam über den Rasen. Er grinste, als er die Tür hinter sich schloss. «So was habe ich ja noch nie erlebt», sagte er. «Warum ist er nicht mit an die Tür gegangen?»
Der Mann lachte leise und fuhr fort: «Er hat telefoniert. Muss eine böse Überraschung für ihn gewesen sein, statt seinem Schläger einen Toten an die Strippe zu bekommen.»
In den ersten Minuten fühlte sich niemand verpflichtet, ihr etwas zu erklären. Vielleicht hätte sie auch nichts verstanden. Die letzte Stunde war
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