Die Lüge
Es hing nur die Lederjacke an der Garderobe. Und unter der Jacke war das Kästchen der Alarmanlage mit all seinen Tasten. Zurkeulen schaute aufmerksam auf ihre Hände, als sie nach der Jacke griff. Sie kam dem Kästchen nicht zu nahe, nahm die Jacke vom Bügel, schlüpfte hinein. Sie musste Nadia gehören, passte wie angegossen. Zurkeulen deutete einladend auf die Haustür.
Die Straße war leer, die umliegenden Häuser dunkel. Laternen zeichneten glitzernde Kreise auf den feuchten Asphalt. Niemand bemerkte etwas, nicht einmal Elenor Ravatzkys Hund. Die schwarze Limousine stand in der Einfahrt. Zurkeulen entriegelte die Türen, wartete, bis sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, und setzte sich hinters Steuer. Der Motor gab nur ein Surren von sich, fast geräuschlos rollte der Wagen auf die Straße.
Etwas drückte gegen ihre Hüfte. Irgendein Gegenstand musste in der rechten Jackentasche stecken, der Beckengurt presste ihn gegen ihren Hüftknochen. Sie tastete danach und fühlte einen länglichen Gegenstand zwischen den Fingern.
Zurkeulen wurde aufmerksam. «Heben Sie die Hände», verlangte er, fuhr an den Straßenrand. Dann griff er in ihre Jackentasche, zog den Gegenstand heraus. Es war ein Feuerzeug, ziemlich groß, mit einem Werbeaufdruck. In der linken Jackentasche befand sich ein schmales Zigarettenetui. Er drückte ihr beides in die Hände. «Ich muss Sie bitten, in meinem Wagen nicht zu rauchen.»
«Ich rauche seit einiger Zeit nicht mehr», sagte sie. «Ich bin schwanger.» Warum sie ihm das sagte, ob sie sich davon einwenig Gnade erhoffte, wusste sie nicht. Männer wie Zurkeulen kannten kein Erbarmen. Er saß hinter dem Lenkrad wie ein Stein, steif, kalt und schweigend. Fast wünschte sie sich, er hätte sich erkundigt, wer sie nun wirklich war. Und vielleicht festgestellt, dass sie beide hereingelegt worden waren. Aber wenn nicht einmal Nadia es geschafft hatte, am Leben zu bleiben …
Andererseits – sie war nicht Nadia, hatte es schon einmal geschafft in einer ausweglos scheinenden Situation. Die beiden grauenhaften Tage, die sie nach dem zweiten Banküberfall in der Fabrikruine verbracht hatte, bekamen plötzlich einen Sinn. Dass Dieter die Ansicht vertrat, sie neige manchmal dazu, sich heillos zu überschätzen, war nebensächlich. Es mochte verrückt sein, sich vorzustellen, sie könne Zurkeulen irgendwie überlisten, entkommen, Michael und Andrea retten. Doch genau diese Vorstellung hielt sie aufrecht im Sitz.
Sie grübelte, ob es nützlich wäre, ein Gespräch zu beginnen. Er musste wissen, dass sie ihn belogen und Helga die Wahrheit gesagt hatte. Sie selbst hatte Ramon gezeigt, dass sie Alfo Investment kannte. Auch wenn sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, ab wann der graue Wagen dem Alfa gefolgt war, es gab nur eine Verbindungsstelle, die Tiefgarage des Gerler-Bürohauses. Und ihm jetzt zu erzählen, ihre Ehe sei gescheitert, sie habe sich bereits mit einem Makler, mit Behringer und Partner, über eine Wohnung unterhalten. Wozu noch? Nach Michaels Verhalten hätte er ihr das kaum geglaubt. Und Hardenberg machte vermutlich jede diesbezügliche Anstrengung endgültig zunichte.
Als sie die Autobahn erreichten, beschleunigte er. Ihre Gedanken irrten zurück ins Haus. Ob Michael eine Chance hatte – mit einer Wasserpistole gegen Ramons Schießeisen? Oder ob er lieber nichts riskierte, um sie nicht zu gefährden? Und Andrea, sie hatte geweint – ohne einen Laut –, was um Himmelswillen hatten sie mit ihr gemacht – oder mit dem kleinen Pascal? Oder mit Andreas Mann, wenn sie einen hatte? Sie hatte auch von einer Großmutter gesprochen.
Der Stadtrand näherte sich viel zu schnell. Wäre es nur um sie gegangen, sie hätte es versucht, mit Fäusten, mit Zähnen, ihm das Feuerzeug in die Haare gehalten – auf die Gefahr hin, dass sie anschließend beide aus einem völlig zerbeulten Autowrack geborgen werden mussten. Aber da waren noch zwei Leben mehr. Und selbst für Michael alleine wäre sie nicht das geringste Risiko eingegangen. Ihre Hände spielten im Schoß sinnlos mit dem Feuerzeug. Dabei löste sich plötzlich der untere Rand. Sie dachte, sie hätte es kaputtgemacht. Aber es war nicht zerbrochen, es war ein Messer. Eine schmale, dünne Klinge, an einem Plastikring befestigt, der den Abschluss eines simplen Einwegfeuerzeugs in einer Plastikhülle bildete. Michaels drängender Ton bekam plötzlich einen Sinn.
Zurkeulen schaute konzentriert ins Dunkel der
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