Die Lüge
hast doch nicht wirklich Leute bestohlen, oder?»
Nur dich, Mutti, dachte sie. Es war nicht leicht, sich bei dem grauenhaften Ende eine harmlose Version für den Anfang auszudenken. Das Wiedersehen wühlte sie mehr auf, als sie erwartet hatte. Minutenlang war sie nur Susanne Lasko, eine Frau, die ihrer Mutter und damit dem einzigen Menschen, der sie wirklich liebte, viel Schmerz und Ungewissheit zugemutet hatte. Sie hatte Mühe, die Tränen hinunterzuschlucken, einigermaßen überzeugend zu klingen, gleichzeitig Dieters Kombi zu steuern und die Hände ihrer Mutter abzuwehren, die entweder über ihr Gesicht tasteten oder ihre Hände am Lenkrad behinderten.
Agnes Runge hörte aufmerksam zu und fragte irgendwann: «Warum hast du mir denn vorher nichts gesagt, Kind? Mir hättest du doch die Wahrheit sagen können.»
In dem Moment war es vorbei mit der Beherrschung. «Es tut mir so Leid, Mutti. Ich wollte dich nicht belügen. Aber ich wollte auch nicht, dass du dir Sorgen machst. Und deshalb dachte ich …»
«Ist ja gut», unterbrach Agnes Runge sie. «Hauptsache ist, dass es dir jetzt gut geht. Das tut es doch, oder?»
«Ja», schluchzte sie.
«Dann hör auf zu weinen, Kind.»
Dieter hatte ein wenig Vorarbeit geleistet; Agnes Runge auf ihr Enkelkind eingestimmt und das neue Leben der einzigenTochter in rosigen Farben geschildert. Ein wunderschönes Haus und ein netter, umgänglicher Mann, Wissenschaftler von Beruf, mit hübschem Einkommen und pünktlichem Feierabend, mit all dem, was sie bei ihm nicht gehabt hatte.
Dass es nie eine Ehe sein konnte mit Trauungsurkunde und dem Segen eines Priesters, störte ein wenig. Aber ein Priester hätte ihr ohnehin den zweiten Segen verweigert, und eine Urkunde war letztlich nur ein Stück Papier. Agnes Runge freute sich schon darauf, Michael Trenkler kennen zu lernen. Dass das unmöglich sein sollte, wollte sie nicht einsehen. «Kind, du kannst doch nicht bis an dein Lebensende so tun, als wärst du seine richtige Frau. Du musst ihm die Wahrheit sagen. Er hat ein Recht darauf.»
Um ihre Mutter nicht erneut in Sorge zu versetzen, versprach sie, ein offenes Gespräch mit Michael zu führen, sobald die Sache mit dem gestohlenen Geld bereinigt war. Und Agnes Runge träumte vom ersten Besuch im neuen Heim ihrer Tochter. Auch wenn sie die Pracht, die Dieter ihr geschildert hatte, nicht sehen konnte, das eine oder andere zu ertasten reichte ihr schon.
Als sie kurz nach sechs wieder auf dem kleinen Parkplatz beim Gasthof hielt, waren ihre Lider geschwollen und die Augäpfel gerötet. Dieter wartete bereits.
«Wann kommst du wieder, Kind?», fragte Agnes Runge.
«Bald», versprach sie.
«Und ich darf es wirklich keinem Menschen sagen, auch Frau Herzog nicht? Johannes wäre sicher froh, wenn er es hört. Es hat ihn doch sehr mitgenommen, sagte Frau Herzog. Und wenn man ihm sagt, dass er nicht darüber reden darf, hält er bestimmt den Mund.»
Dieter hatte längst die Fahrertür geöffnet. Er zog sie aus den Armen ihrer Mutter und schob sie zur Seite. «Ich mache das schon. Hast du noch einen Moment Zeit?»
«Eigentlich nicht», sagte sie. «Ich muss los, sonst komme ich zu spät ins Konzert.»
«Welches Konzert?», fragte Dieter. «Mach dir lieber einen netten Abend daheim. Dein Mann versteht sicher, dass du unter den gegebenen Umständen nicht unter Leute willst.»
«Er will aber», sagte sie. «Und er freut sich darauf.»
Dieter schüttelte verständnislos den Kopf und murmelte etwas von bodenloser Unvernunft, fügte lauter hinzu: «Treib es nicht auf die Spitze.» Als sie in den Alfa stieg, sagte er noch: «Pass auf dich auf.»
«Das habe ich bis jetzt getan», erwiderte sie und fuhr los.
Michael erwartete sie nervös in der Diele. Er stutzte, als er die Tränenspuren in ihrem Gesicht sah. «Gab es Probleme?», erkundigte er sich flüsternd. Laut zu sprechen war nicht möglich. Er war bereits fürs Konzert umgezogen und nicht allein. Doch mit ihrem Kopfschütteln und dem gehauchten «Alles in Ordnung» gab er sich nicht zufrieden. «Und warum hast du geweint?»
«Ich war noch bei Helga», flüsterte sie. «Es geht ihr sehr schlecht.» Das verstand er.
Schneider stand zusammen mit Jo und Lilo im Wohnraum vor dem Maiwald und ließ sich die Bedeutung der goldumsprühten Löcher erklären. Ob er wirklich interessiert war oder sich nur die Zeit vertrieb, war nicht ersichtlich. Mit verlegenem Grinsen schaute er ihr entgegen. «Das war aber nicht Sinn der Sache, dass Sie
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