Die Lüge
Spritztouren unternehmen.»
«Ihr Boss muss es ja nicht erfahren», sagte sie. «Und ich musste mal raus, sonst wäre ich erstickt.»
Michael schob sie zur Treppe. «Sein Boss hat es leider bemerkt und ihm bereits die Leviten gelesen. Zieh dich um, damit wir ihn beruhigen können. Wolfgang und Ilona sind schon vorausgefahren. Jo und Lilo fahren mit uns. Schneider macht die Eskorte bis Bonn.»
Lilo folgte ihr ins Ankleidezimmer und stellte ebenfalls fest: «Das war sehr unvernünftig von dir, Liebes.» Gleich anschließend zeigte sie jedoch Verständnis. Sie wäre auch verrückt geworden, wenn man einen Polizisten bei ihr einquartiert hätte. Man ließ doch seinen Gefühlen nicht gerne freien Lauf, wenn ein Fremder dabei zuschaute. Lilo nahm an, sie habe vor Anspannung geweint, und tröstete: «Wolfgang hat bereits Dampf abgelassen. In der Haut des jungen Mannes hätte ich nicht stecken mögen. Lass mich mal sehen, womit wir ihn auf andere Gedanken bringen.»
Lilo betrachtete die Galaroben, hielt das Rote für geeignet, und das habe sie lange nicht mehr getragen. Das Kleid passte um die Hüften noch ausgezeichnet. Nur in der Oberweite war es ziemlich knapp. Lilo fand das schick. «Es sieht sehr sexy aus, Liebes.» Auch das Zubehör zur Abendgarderobe suchte Lilo zusammen und riet dringend, das Collier mit dem Saphir zu tragen. Vermutlich lag das im Tresor. Aber es gab Ausreden: «Ich habe keine Lust, jetzt noch nach oben zu laufen.»
Nachdem das verweinte Make-up erneuert war, fand Lilo: «Du siehst perfekt aus.»
Auch Michael war mit ihrem Aussehen zufrieden. Sie nahmen seinen Wagen. Lilo unterhielt sie aus dem Fond mit Maiwalds neuster Affäre. Niemand verstand es so recht, aber Djorsch hatte sich tatsächlich von Julia getrennt. Dabei hatte Julia ihn doch so inspiriert. Edgar war unendlich traurig über die Entwicklung. Er fürchtete, dass Djorschs neues Werk stark von seinen bisherigen Arbeiten abweichen könnte, weil Maiwalds neue Liebe ein eher strenger Typ war. Jo steuerte einen kleinen Vortrag bei über Brenner, der ihm nun förmlich die Gelder aufdrängte, die er ihm kürzlich verweigert hatte.
Sie hörte mit halbem Ohr zu, sortierte Edgar in die Galerie Henseler und Brenner zu Jos Erfindungen, betrachtete Michaels Profil und seine Hände am Lenkrad und grübelte über dieAnsicht ihrer Mutter, er habe ein Recht auf die Wahrheit. Natürlich hatte er das. Und die Wahrheit war, dass sie sein Kind bekam und ihn liebte. Alles andere, fand sie, zählte nicht.
Ihre Plätze befanden sich dicht an der Bühne. Wolfgang und Ilona saßen bereits wie unzählige andere, als sie die Stuhlreihe erreichten. Jo und Lilo schoben sich sicherheitshalber vor, Michael ebenso. Ihr blieb der Stuhl ganz außen. Damit war Wolfgang jede Möglichkeit zu einer Strafpredigt genommen.
Die große Halle war erfüllt von Gemurmel. Kaum dass sie Platz genommen hatten, füllte sich auch die Bühne. Jacques Niedenhoff erschien erst, als alle anderen Musiker an ihren Instrumenten saßen. Wie ein junger Gott im Frack trat er ans Mikrophon und sagte ein paar Worte. Er hatte eine angenehme Stimme mit starkem französischem Akzent. Der größte Teil seiner Erklärung oder Begrüßung ging im aufbrausenden Applaus unter. Jacques verbeugte sich und setzte sich an den Flügel.
Es war genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte, völlig ohne Risiko. Und es war ein Genuss ganz besonderer Art. Ein Raum voller Musik, einfach nur Musik. Sie hätte nicht sagen können, was gespielt wurde. Aber die Geigen verursachten ihr ein Kratzen in der Kehle. Es war so schön, dass es dafür keinen Ausdruck gab. Sie war glücklich, dass sie es sich von Dieter nicht hatte ausreden lassen. Eine Ewigkeit hätte sie zuhören und es genießen können. Michael neben ihr lauschte mit geschlossenen Augen. Es war perfekt – zwei Stunden lang.
Dann erhob sich Jacques und verbeugte sich. Der Applaus brandete in Wellen. Zahlreiche Stimmen verlangten nach einem Dacapo. Nadias Jugendliebe kümmerte sich nicht darum, bedankte sich und verschwand, wie er gekommen war. Auch die anderen Musiker und zahlreiche Leute aus dem Publikum verließen ihre Plätze.
Michael blieb sitzen, bis sich das ärgste Gedränge aufgelöst hatte. Über Jo und Lilo hinweg unterhielt er sich mit Wolfgang. Sie verstand nur den Satz: «Mit Helm oder gar nicht.»
Wolfgangs Antwort gefiel ihm nicht. Noch auf dem Weg zum Parkplatz sprach Michael heftig auf ihn ein. Ilona schüttelte mehrfach
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