Die Lüge
sich unangenehm bemerkbar. Er schaute sie nicht an, er verschlang sie mit den Augen. Ungeachtet der Tatsache, dass Michael dabei war, streichelte er sie mit Blicken – und nicht nur im Gesicht. Das rote Kleid hatte ein aufregendes Dekolleté. Aber Michael zuckte mit keiner Wimper.
Sie riskierte es, setzte ein arrogantes Lächeln auf, packte Michaels Arm ein wenig fester und ließ ihre Stimme spöttischklingen: «Ich bitte dich, mon chéri, das hätte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Ich habe dich schon schlechter spielen gehört als heute.»
Jacques deutete eine leichte Verbeugung an und erwiderte in ebenfalls spöttischem Ton: «Merci bien.»
Damit schien es überstanden. Wolfgang belegte sie mit Beschlag und sparte nicht mit Vorwürfen. Warum, verdammt nochmal, veranlasste er seine Männer, das freie Wochenende zu ihrer Sicherheit zu opfern, wenn sie in der Gegend herumfuhr?
«Reg dich ab», sagte sie. «Ich bin doch heil zurückgekommen.»
«Und wo warst du?»
«Bei Lasko», sagte sie. «Ich dachte, er erzählt mir vielleicht noch etwas mehr über seine Exfrau. Das war aber ein Irrtum.»
Michael und Jacques vertieften sich in ein Gespräch, bei dem Michael bewies, dass er entschieden mehr von Musik verstand als vermutet. Er kannte das Klavierkonzert Nummer eins von Tschaikowsky und wusste, dass Jacques den Feuertanz von de Falla ein wenig abgewandelt hatte. Sie wusste nicht einmal, wann in diesen beiden Stunden sie Tschaikowsky und einen Feuertanz gehört hatte, nippte an ihrem Mineralwasser und betrachtete die fremden Gesichter ringsum.
Professor Danny Kemmerling schälte sich aus der Menge. An seinem Arm hing ein blutjunges Geschöpf in perlenbestickter Jeans und knapper Samtkorsage. Und ihr hatte er weisgemacht, seine Frau freue sich auf das Konzert! Zwei Sekunden lang zog sie in Erwägung, es handle sich um seine Tochter. Das junge Ding strahlte sie an, spähte dabei jedoch an ihr vorbei auf Jacques und erklärte. «Ich hoffe, Danny hat sich entsprechend bedankt. Es war ein unvergleichliches Erlebnis.»
Die fröhliche Stimme klang vertraut. Und in Verbindung mit dem lässigen Danny war es nicht schwer, zu begreifen. Es war die Frau, die ihre Bitte um ein Gespräch mit Kemmerling entgegengenommen hatte. Offenbar waren auch Professoren nicht gefeit gegen den Charme einer Labormaus.
Michael sprach ein paar Sätze mit Kemmerlings Freundin und ein paar mit dem Professor. Jacques nutzte die Gelegenheit, sich noch einmal an sie zu wenden. Da er plötzlich französisch sprach und noch dazu sehr schnell, verstand sie kein Wort.
Sie lächelte ihn an in Nadias arroganter Art und sagte: «Sei mir nicht böse, mon chéri. Ehe wir uns unterhalten, muss ich mir etwas zu essen holen.» Der Trick mit dem Essen funktionierte offenbar in jeder Situation. Ohne sich um seine pikierte Miene zu kümmern, drehte sie sich um und verließ die Gruppe. Jacques wandte sich an Michael, aus den Augenwinkeln sah sie noch, dass Michael ihn mit Kemmerlings Freundin bekannt machte.
An der Längsseite des Saales war ein üppiges Büfett errichtet. Sie organisierte sich einen Teller und schlenderte an den dicht umlagerten Köstlichkeiten vorbei. Niemand beachtete sie. Sie kümmerte sich ebenfalls um niemanden, verlor die Gruppe um Jacques völlig aus den Augen und konzentrierte sich auf ihre Auswahl. Bei den Salaten bestand ein gewisses Risiko, weil sie die Zutaten nicht eindeutig identifizieren konnte. Fleisch und Käse waren unproblematisch, aber zurzeit noch blockiert.
Während sie überlegte, ob sie etwas Räucherlachs aus der Plattenmitte nehmen könnte, dort kam der Fisch nicht mit der Zitronendekoration in Berührung, legte sich ihr plötzlich eine Hand auf die Schulter. Jacques stand dicht hinter ihr und sagte etwas. Sie verstand nur «Ma chérie». Aber sein Blick war deutlich.
Mit der Hand auf ihrer Schulter drehte er sie zu sich um, verfing sich für etliche Sekunden in ihrem Dekolleté, rutschte endlich ein wenig tiefer und landete entweder auf ihrem leeren Teller oder auf ihrem Leib, so genau war das nicht festzustellen. Laut Dieters Französisch-Kurs für Fortgeschrittene erkundigte er sich, ob sie sich nicht entscheiden könne.
«Ich habe mich entschieden», sagte sie.
Daraufhin hielt Jacques ihr mit einem spöttischen Lächeln einen längeren Vortrag, in den zweimal Michaels Name und einmal das Wort einfloss, mit welchem der Arzt in Paris für Verwirrung und Jubel gesorgt hatte. Anscheinend erkundigte er
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