Die Lüge
schalten und steuern, wie sie es für richtig hielt, und hörte sich an, wie sehr sie sich auf diese Kurierfahrten freue, weil die natürlich extra bezahlt wurden.
Mit etwas Verspätung erreichten sie den Parkplatz beim Seniorenwohnheim. Johannes spähte nach einer Lücke, wies mit dem Finger nach vorne. «Da», sagte er und zeigte auf einen freien Platz. Den einzigen. Ihr war er entschieden zu schmal.
«Einparken machst du lieber selbst», sagte sie.
«Nein. Fahren kann jeder Trottel. Man muss so eine Kiste auch abstellen können. Als Kurier müssen Sie in viel kleinere Lücken. Versuchen Sie es rückwärts, ist einfacher.»
Etwa zehn Minuten später stand der BMW zwischen zwei anderen Fahrzeugen und sie mit wackligen Knien daneben.
«Na bitte», sagte Johannes, als sie zum Gebäude gingen, «lief doch hervorragend. Bis um sieben. Oder sagen wir halb acht, dann ist der Platz hier ziemlich frei. Dann können Sie noch ein bisschen üben und auch zurückfahren.»
Nächste Woche um diese Zeit, dachte sie und bedankte sich schon einmal im Voraus für sein freundliches Angebot.
Es wurde eine fürchterliche Woche. Angefangen mit den bohrenden Fragen ihrer Mutter nach ihrer Einsilbigkeit. «Susanne, du hast doch was. Willst du es mir nicht sagen?»
«Nur meine Tage bekommen.»
Damit gab Agnes Runge sich zufrieden, erzählte munter und arglos von den nichtigen Ereignissen in ihrem Leben. Anschließend erkundigte sie sich nach Susannes Arbeit im Büro, ihrer Freundin Jasmin Toppler und dem netten Herrn Heller.
Plötzlich hätte sie weinen mögen, all die Lügen und die inzwischen auf dem Konto ihrer Mutter fehlenden zweitausend Euro. Es wäre so einfach gewesen, im Januar zu sagen: «Mutti, ich hab meine Arbeit verloren.» Ihre Mutter hätte sie garantiert bereitwillig unterstützt. Und sie hätte jetzt sagen können: «Mir ist etwas Komisches passiert, Mutti. Ich habe eine Frau kennen gelernt, die genauso aussieht wie ich. Vielmehr sehe ich jetzt genauso aus wie sie. Den Spaß hat sie sich einiges kosten lassen. Und sie will mir fünfhundert zahlen, wenn ich …»
Nächste Woche um diese Zeit! Und das Bedürfnis, mit einem Menschen über Nadia Trenkler zu sprechen, saß ihr wie ein Kloß in der Kehle. Herauslassen konnte sie ihn nicht. Wie ihre Mutter über Treue dachte, hatte sie noch im Ohr. Ihr Vater hatte zu seinen Lebzeiten häufig geraten: «Geh doch mal tanzen, Susanne. Du wirst sehen, dass es noch mehr Männer gibt als deinen rasenden Reporter. Von dem hast du ja nichts. Und du glaubst hoffentlich nicht, dass er es immer so genau nimmt.»
Jedes Mal war ihre Mutter ihm über den Mund gefahren. «Wie kannst du so was sagen? Was Dieter tut, steht auf einemanderen Blatt. Ich finde es auch nicht richtig, dass er sie immer allein lässt. Aber sie hat vor dem Altar geschworen …»
Ihrer Mutter zu erklären, dass sie sich dafür hergab, eine Frau zu vertreten, die ihren Mann betrügen wollte, dass sie sich dafür sogar bezahlen ließ, war völlig ausgeschlossen.
Um halb acht stieg sie zum zweiten Mal auf den Fahrersitz des BMW. Johannes war ein Schatz an guten Tipps. Länger als eine Stunde übte sie unter seiner geduldigen Anleitung auf dem fast leeren Parkplatz rückwärts, vorwärts und seitwärts einparken, wenden in drei Zügen, rückwärts um die Ecke fahren und was es sonst noch an Beschäftigungen für Fahrschüler gab. Dann fuhr sie auf die Landstraße und schließlich sogar vom Ende der Beschleunigungsspur im ersten Gang auf die Autobahn.
Johannes unterhielt sie mit theoretischem Unterricht, erklärte, wie man ein ausbrechendes Fahrzeug wieder unter Kontrolle brachte und dabei gleichzeitig auf der Stelle wendete, wie man mal ein Stück weit auf nur zwei Rädern fuhr, wie hoch man beschleunigen musste, um ein Auto wie ein Pferd über Gräben oder sonst etwas springen zu lassen, und andere Tricks, die er in seinem Nebenjob als Stuntman beherrschen musste. Dann bot er sogar an, in der Woche abends vorbeizukommen, damit sie auf einem Gelände üben könne, auf dem er kürzlich gearbeitet hatte.
Es wäre vermutlich klüger gewesen, doch noch ein paar reguläre Fahrstunden zu nehmen, sich mit dem Stadtverkehr vertraut zu machen und eine Autobahnauffahrt zumindest im dritten Gang ansteuern zu lernen. Aber der Schleuderkurs bei Johannes kostete nichts. Also stimmte sie zu.
Montags beschäftigte sie sich den halben Tag mit den Fotos. Nadias Haus von innen und außen, Partys in der Nachbarschaft.
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