Die Lüge
Kinderspiel, Michael stünde kaum der Sinn danach, sich näher mit ihr zu beschäftigen, bevor er das Haus verließ. Beim Mittagessen wollte Nadia ihren Unmut über den einsamen Abend äußern und behaupten, sie habe auch etwas zu erledigen. Susanne hätte dann nichts weiter zu tun, als die kalte Schulter vorzustrecken, jedes eventuell versöhnende oder entschuldigende Wort von Michael mit einem höhnischen Auflachen zu beantworten und jeweils den Raum zu verlassen, in dem er sich aufhielt oder in den er ihr folgte.
«Lange wird er dir nicht auf die Nerven gehen», sagte Nadia. «Um fünf muss er weg. Wir treffen uns um drei im Parkhaus, dann hast du genug Zeit für die Fahrt.»
Sie nickte verkrampft. Dass es so schnell ginge, hatte sie nicht erwartet. Bis in die Fingerspitzen fühlte sie ihr Herz pochen und war gleichzeitig ein wenig erleichtert, dass Nadia nicht auf den Gedanken kam, sie fahren zu lassen. Unter Garantie hätte sie die Lüge mit der Fahrstunde durchschaut und begriffen, dass ihr Geld nicht dem Bestimmungszweck zugeführt worden war.
Nächsten Sonntag! Jetzt war höchste Eile geboten. Samstags konnte sie nichts mehr unternehmen. Sonntags stand sie um zwei mit neuer Frisur und perfektem Make-up am Straßenrand vor dem Haus. Sie trug die Sachen, die Nadia in der Boutique gekauft hatte. Johannes Herzog verschluckte sich fast, als sie zu ihm in den BMW stieg. «Toll sehen Sie aus», meinte er.
Solch ein Kompliment in ihrem Alter von einem Mann Mitte zwanzig hatte gewiss seinen Wert. Nur war ihr nicht halb so elegant in ihrer Haut, wie es nach außen strahlte. Nach vier oder fünf Monaten – so genau wusste sie es nicht – war sie um sechs in der Früh auf feucht rotem Laken erwacht. Und mit der Blutung kamen dieses diffuse Unwohlsein undmassive Selbstzweifel. Sie konnte am nächsten Sonntag unmöglich den Alfa Spider über die Autobahn in dieses grüne Viertel steuern.
Johannes raste in gewohnter Manier durch die Kurven, warf ihr verstohlene Seitenblicke zu und erkundigte sich schließlich: «Ist Ihnen nicht gut?»
Nein! Ihr war alles andere als gut. Sie fürchtete, am nächsten Sonntag schon an der Hinfahrt kläglich zu scheitern. Johannes ging mit Schwung in die nächste Kurve. «Mir ist übel von deiner Raserei», beantwortete sie seine Frage.
Es war das erste Mal, dass sie seinen Fahrstil kritisierte. Er war ehrlich verblüfft. «Fahr ich zu schnell?»
«Auf so einer Straße fahre ich nie schneller als siebzig», sagte sie. Das war als vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit auf den Schildern am Straßenrand vermerkt, an denen sie seit einigen Minuten vorbeirasten.
«Ich wusste gar nicht, dass Sie fahren können», sagte er.
«Ich habe nicht oft Gelegenheit», erklärte sie. «Zurzeit habe ich ja kein eigenes Auto. Aber jetzt hat man mir einen Firmenwagen angeboten; ich soll die Kurierfahrten übernehmen. Ich würde das gerne tun. Ich fürchte nur, es wird an meiner mangelnden Fahrpraxis scheitern.»
Johannes verstand den Wink mit dem Zaunpfahl, setzte brav den Blinker und steuerte an den Straßenrand. Nächste Woche um diese Zeit, dachte sie, während er ausstieg. Im Geist sah sie das kleine Foto des blonden Mannes. Michael Trenkler, wer sonst? Wenn es nur für ein paar Minuten wäre, wenn er gar nicht die Zeit hätte, sich großartig mit ihr zu beschäftigen, war wirklich kein Risiko dabei – vorausgesetzt, sie kam an.
Sie rutschte auf den Fahrersitz. Der Motor lief noch, den Gang hatte Johannes rausgenommen und die Handbremse angezogen. Linker Fuß auf die Kupplung, rechter Fuß aufsGas, ersten Gang einlegen, Handbremse lösen. Und langsam – schoss der BMW in die Straßenmitte.
«Sachte», mahnte Johannes, lehnte sich im Sitz zurück und schlug lässig das linke Bein über das rechte. «Sie hätten nur mal was sagen müssen, da hätte ich Sie schon früher fahren lassen. Ich bin da nicht eigen. Was sind das denn für Kurierfahrten? Ich dachte, Sie arbeiten im Büro.»
«Ja. Aber man kann sich auf diese Kurierdienste nicht hundertprozentig verlassen», erklärte sie. «Wenn eine Sache eilig ist, muss man sie selbst erledigen.»
Es klang noch etwas verkrampft, aber inzwischen fuhr sie mit knapp dreißig Stundenkilometern korrekt auf der rechten Straßenseite. Der Motor heulte entsetzlich. Sie schaltete in den zweiten Gang, riskierte fünfzig im dritten und schaffte es bis siebzig, ohne das Gefühl zu haben, eine unkontrollierbare Rakete zu lenken. Johannes saß nur da, ließ sie
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