Die Lüge
…» Das war nicht zu viel gesagt und nicht zu wenig, und völlig falsch konnte es auch nicht sein.
Er grinste verlegen oder entschuldigend. «Nicht unbedingt. Wenn du einverstanden bist, ich kann Kemmerling anrufen. Er hat den Streamer von gestern mitgenommen und meinte, wenn er segmentiert, käme er schon zurecht. Aber das bezweifele ich.»
Die Begriffe summten in ihren Ohren wie bösartige Wespen. Was, zum Teufel, war ein Streamer? Michael neigte den Kopf und bat: «Gib deinem Herzen einen Stoß. Du hast doch genug Kapazität. Wir könnten vorübergehend die Sec runternehmen.» Sie hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, was er von ihr wollte. Erst als er sagte: «Ich steh dabei und schau Kemmerling auf die Finger. Er wird sich nicht an deinen Daten vergreifen», dämmerte ihr, dass er immer noch von einem Computer sprach und von ihr einen haben wollte. Sie verstand nur nicht, warum. In seinem Arbeitszimmer stand doch einer. Wenn der nicht reichte, Nadias P vier mit drei Gigahertz lag möglicherweise zertrümmert in einem Autowrack. Von wegen: Er kümmert sich nicht um meinen Laptop! Er wollte dieses kleine Ding haben.
«Tut mir Leid», sagte sie. «Ich habe es im Büro gelassen.»
Und Michael sagte nicht etwa: «Schade.» Er runzelte nur wieder die Stirn und erkundigte sich: «Was?»
«Den», sagte sie und zeigte in hilflosen Handbewegungen die ungefähre Größe des tragbaren Computers, «P vier, ich meine den Laptop, ich habe ihn nicht dabei.»
Nun war er mehr als verblüfft. «Was für einen Laptop?» Beim nächsten Satz klang er unwillig: «Was soll der Quatsch, Nadia? Ich erinnere dich höchst ungern daran, wer seit zwei Jahren das Geld ins Haus bringt.» Dann deutete er mit dem Daumen zur Zimmerdecke: «Können wir nun oben arbeiten, ja oder nein?»
Nach all den sich ratlos überschlagenden Gedanken und rasend schnell gezogenen Schlussfolgerungen brauchte es für die neue Erkenntnis nur den Bruchteil einer Sekunde. Enter Password Michael, dachte sie, glaubte aber keine Sekunde lang, dass es damit funktionierte. Das Risiko, dass er sie um das Kennwort bat, konnte sie nicht eingehen. Es half alles nichts. Sie saß in Nadias Haus, an Nadias Tisch, vor NadiasMann, mitten in Nadias Leben. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu benehmen wie Nadia. «Nein», sagte sie.
Es schien nach dieser knappen Antwort überflüssig, sich noch Gedanken zu machen über die bevorstehende Nacht und einen eventuell üblichen Gutenachtkuss, den Nadia zu erwähnen vergessen hatte. Sichtlich verstimmt verließ Michael die Küche. In der Diele rief er noch: «Es kann spät werden, brauchst nicht auf mich zu warten!» Dann klappte die Haustür.
Über dem Kühlschrank trat wieder der Monitor in Aktion. Sie sah Michael in großen Schritten davonhetzen und schielte zum Handy unter den schmutzigen Töpfen und Pfannen. Im Seniorenwohnheim anrufen? Ihrer Mutter mit Engelszungen einreden, dass es keinen Grund für Tränen gab? «Egal, was die Polizei gesagt hat oder noch sagen wird. Es geht mir gut, Mama. Alles Weitere werde ich dir später erklären.» Dazu konnte sie sich nicht aufraffen.
Sie nahm den benutzten Teller vom Tisch. Die kläglichen Reste der Mahlzeit waren rasch in den Mülleimer geschabt, ebenso schnell stand der Teller ordnungsgemäß in der Spülmaschine. Dann stand sie vor einem neuen Problem. Töpfe, Pfanne, Seiher und die restlichen Gerätschaften passten zwar in die Maschine und waren auch schnell darin verstaut. Das Spülmittel fand sie im Schrank unter dem Ausguss. Doch nach einem Einschaltknopf suchte sie vergebens. Früher, im Haus ihrer Schwiegermutter, hatten sich mehrere Knöpfe auf der Tür der Spülmaschine befunden, hier gab es nur eine glatte Fläche.
Da sie ohnehin nicht wusste, wie sie den Tag hinter sich bringen sollte, ohne verrückt zu werden, räumte sie die Maschine aus und spülte alles mit der Hand. Anschließend polierte sie den Herd, die Arbeitsfläche, die Wandfliesen und den Ausguss auf Hochglanz, holte sich einen Eimer und ein modernesWischgerät aus dem Hauswirtschaftsraum und kümmerte sich noch um den Fußboden.
Kurz nach fünf riss ein gedämpftes Klingeln sie aus den trüben Gedanken. Es kam aus der Küche, und sie war gerade im Keller, verstaute das Putzzeug wieder im Schrank. Ehe sie die Küche erreichte, hatte es schon mindestens siebenmal geklingelt. Beim achten Mal hatte sie das Handy endlich in der Hand und stieß ein atemloses «Na endlich» in den Hörer.
In
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