Die Lüge
gehöre Michael. «Und mich hätte das nicht gestört, wenn sie hier arbeiten.»
Aus dem Telefonhörer drang ein scharfer Atemzug. Siesprach unbeirrt weiter und genoss es, berichtete von Michaels Versprechen, dafür zu sorgen, dass Kemmerling sich nicht an ihren Daten vergriff; von dem Licht, welches ihr nach diesem Hinweis aufgegangen sei. Und dass sie dann erklärt habe, sie müsse selbst noch arbeiten und habe den Laptop im Büro vergessen.
Wieder drang ein scharfer Atemzug aus dem Telefonhörer, gefolgt von Nadias empörter Stimme: «Bist du verrückt geworden?»
Es gelang ihr mühelos, die Stimme mit einem Hauch von Schuldbewusstsein zu unterlegen und Nadia ein Gemisch aus Wahrheit und freier Erfindung so überzeugend zu präsentieren, dass nicht der geringste Argwohn entstand. Dass Michael ein paar dumme Fragen zum Laptop gestellt, sie ihm nicht geantwortet habe, sondern hinaufgegangen sei und versucht habe, den großen Computer in Gang zu bringen. Dass er ihr gefolgt sei und genau gesehen hätte, dass sie nichts machen konnte.
Am anderen Ende der Leitung stieß Nadia hörbar die Luft aus. «Ich habe dir am Flughafen noch gesagt, dass ich den Laptop immer im Auto lasse. Kannst du nicht ein bisschen mitdenken? Es hätte doch gereicht, einfach nein zu sagen.»
Sie grinste und schwieg. Es mochte ein kleiner Triumph sein, aber es war einer. Sekundenlang war es still im Hörer. Nadia schien zu überlegen, dann fragte sie: «Wo ist er jetzt?»
«Zu Kemmerling gefahren.» Vermutlich war es auch so. «Er will den Streamer von gestern holen», flunkerte sie weiter. «Und dann nochmal darüber reden, wer seit zwei Jahren das Geld ins Haus bringt.» Es war überaus gewagt, solch eine Behauptung aufzustellen. Doch die Sorge, dass Nadia ihr später in zwei, drei Sätzen mit Michael auf die Schliche käme, war nichts im Vergleich zu dem, was sie vorhin durchgestanden hatte.
«Mist», fluchte Nadia. «Du wirst ihn auf keinen Fall an den Rechner lassen. Und wenn er noch einmal nach dem Laptop fragt, sagst du, Philipp hätte ihn dir zur Verfügung gestellt.»
Philipp! Der Name erzeugte ein Echo in ihrem Hirn. Von Nadia hatte sie ihn bisher nicht gehört, da war sie sicher. Aber sie hatte ihn gehört, kürzlich erst, und mit so vielen Leuten sprach sie ja nicht. «Ist Philipp der Bekannte, für den du arbeitest?»
«Wer sonst? Jetzt geh nach nebenan und fahr den Rechner hoch. Ich erkläre dir alles.»
Sie folgte Nadias Instruktionen. Das Kennwort war Arosa. Nadia gab Anweisungen, ein bestimmtes Programm zu starten. Auf dem Monitor erschien etwas, das sie an die Stundenpläne ihrer Schulzeit erinnerte, ein leeres Kästchen neben dem anderen. «Du kannst Zahlen eintippen, solange es nötig ist», sagte Nadia. «Lass die Finger von den anderen Programmen.» Das war deutlich. Sie betrachtete die leeren Kästchen und fühlte sich behandelt wie ein Kind, das zum Spielen in den Garten geschickt wurde. Aber keine Blümchen abreißen!
Nadia erklärte noch, wie der Rechner wieder herunterzufahren sei, und verlangte: «Schreib dir die Nummer des Hotels auf. Wenn noch ein Problem auftaucht, kannst du an der Rezeption eine Nachricht hinterlassen, falls ich nicht im Zimmer bin. Ich rufe so schnell wie möglich zurück.» Sie nannte etliche Zahlen, die ersten waren zweifellos eine ausländische Vorwahl.
«Wo bist du überhaupt?», fragte Susanne.
«In Luxemburg. Falls Michael morgen immer noch an den Computer will, musst du im Haus bleiben.»
«Ich kann gar nicht weg, du hast meine Schlüssel.»
«Ach», sagte Nadia, «ist mir noch nicht aufgefallen. Also dann, bis morgen.»
Sie legte das Handy zur Seite, fuhr den Rechner entsprechendden Anweisungen herunter und nach ein paar Sekunden wieder hoch. Enter Password Arosa. Über den Bildschirm huschten in schneller Folge Kombinationen aus Buchstaben und Zahlen. Sie schaute zufrieden zu, faltete dabei das Blatt mit der Telefonnummer zusammen und schob es unter das Handy. Später trug sie es hinunter in die Diele und steckte es in ihr Portemonnaie. Sehr viel später. Vorher schrieb sie ihren ersten Brief.
Das Wissen, an Nadias Computer zu sitzen, senkte ihre Hemmschwelle enorm und machte sie experimentierfreudig. Und was Nadia zum Starten der leeren Kästchen erklärt hatte, funktionierte auch mit der Textverarbeitung. Sie legte die Finger auf die Tastatur und schrieb:
«Sehr geehrte Frau Lasko,
Sie haben sich am 25.7. dieses Jahres um eine Anstellung als Schreibkraft in
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