Die Lüge
ein. Und der Gedanke an den diensteifrigen Angestellten, von dem sie den Mercedes übernommen hatte, der garantiert über einen Unfall informiert wurde, beruhigte sie vorübergehend. Aber es waren nur ein paar Sekunden. Noch während sie überlegte, ob sie den Verleih anrufen oder zum Flughafen fahren sollte, wurde ihr bewusst, dass Susanne Laskos Unfall in einem Nobelauto zahlreiche Fragen aufwerfen musste.
Woher hatte eine Frau, die ein erbärmliches Dasein in einer schäbigen Wohnung fristete, plötzlich das Geld, sich so ein Fahrzeug zu leisten? Wozu brauchte sie es? Wohin wollte siedamit? Und wenn sie die Sache aufklärte? Mit einem Lächeln nähme die Verleihfirma es garantiert nicht hin, dass sie den Wagen an eine andere Person weitergegeben hatte. Vermutlich verlangten sie Schadenersatz von ihr. Was mochte ein silbergrauer Mercedes kosten? Am Ende ihrer Gedankenkette stand die trübe Erkenntnis, dass auf sie ein Berg von Problemen wartete, wenn Nadia tatsächlich im Mietwagen verunglückt sein sollte.
Irgendein Sensor registrierte draußen das Schlagen einer Autotür. Der Monitor über dem Kühlschrank wurde hell und zeigte Bewegungen. Sie bemerkte es nicht einmal. Das Schnitzel lag noch fast unberührt zwischen Spargel und grünen Bohnen. Sie häufte ein paar geschmorte Champignonscheiben und Zwiebelringe auf die Gabel und überlegte, ob sie es riskieren könne, in die Kettlerstraße zu fahren und sich bei Heller zu erkundigen, ob Polizei im Haus gewesen sei.
Über dem Kühlschrank wurden Stimmen laut. Nun schaute sie doch hin. Ihre Hände begannen zu zittern, als sie Michael Trenkler erkannte. Er musste direkt vor der Haustür stehen und war nicht allein. Seine Begleitung verdeckte er für die Kameralinse, forderte sie jedoch auf: «Komm doch kurz mit rein.»
In der nächsten Sekunde hörte sie seine Schritte in der Diele, dann stand er auch schon in der Küche und lächelte sie an. «Hallo, Schatz.»
Sie stopfte sich blitzschnell drei grüne Bohnen in den Mund, nuschelte: «Hallo», und spähte an ihm vorbei in Erwartung irgendeines Fremden, von dem sie nicht wusste, ob Nadia ihn freundlich oder missbilligend begrüßte.
Sein Blick wanderte erstaunt zu dem benutzten Küchengerät auf der Ablagefläche, sein Lächeln verlor sich. Er hatte das Glas entdeckt, war mit wenigen Schritten heran, nahm es, schnupperte und kniff die Augen zu schmalen Schlitzenzusammen. In der Dielentür tauchte Joachim Kogler auf, musterte sie besorgt. Die Zwiebeln auf ihrem Teller schienen ihn zu erleichtern. Er blinzelte ihr verschwörerisch zu und behauptete, er sei eben schon mal bei ihr gewesen, um sich zu bedanken. Und er habe mit einem kräftigen Schluck auf den Segen angestoßen. Michael entspannte sich wieder.
Joachim Kogler blieb lange genug, um das Essen auf ihrem Teller kalt werden zu lassen. Er redete fast ohne Unterbrechung auf Michael ein, lobte ihre gute Nase, kam auf Lilo zu sprechen, die am Samstag seinen Sieg über den kleinkarierten Brenner feiern wollte. Mehrfach versuchte er, sie ins Gespräch einzubeziehen, und warf ihr ein halbes Dutzend Namen an den Kopf.
Lilo werde garantiert Henseler zu der Feier am Samstag einladen, natürlich auch den jungen Maiwald – vorausgesetzt, der ließe sich aus seiner Klausur locken. Er erinnerte sie daran, wie ausgezeichnet sie sich bei der letzten Vernissage mit Barlinkow unterhalten hatte, und der käme bestimmt. Ihre Einsilbigkeit ließ ihn schließlich resignieren. Er wandte sich wieder Michael zu. «Ihr habt doch Zeit am Samstag?»
«Klar», sagte Michael und betrachtete sie misstrauisch.
Und sie sah sich einem gesichtslosen Henseler, einem schemenhaften jungen Maiwald, einem ebensolchen Barlinkow und einem Dutzend Fremder mehr gegenüber.
Joachim Kogler lächelte sie verunsichert an. «Ja, dann will ich mal wieder. Ich habe noch einiges zu erledigen.»
Er verließ das Haus. Michael ließ erneut den Blick über das Chaos auf der Arbeitsplatte schweifen. «Alles okay?»
«Ja», murmelte sie.
«So sieht es aber nicht aus», stellte er fest. «Hast du Ärger?»
«Nein.»
«Und warum bringst du dann die Zähne nicht auseinander?Stimmt etwas nicht mit dem Bescheid, den Jo bekommen hat?»
«Doch, es ist alles in Ordnung.»
«Nadia, ich hab Augen im Kopf. Irgendwas ist nicht in Ordnung. Kann Jo sich das nicht auszahlen lassen?»
In der Art bohrte er minutenlang weiter. Erst als sie ihm versicherte, es sei wirklich alles bestens, sie habe nur fürchterliche
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