Die Lüge
wusste, wie man richtig lebt. Sie rief das Dateimenü auf, der Einfachheit halber hatte sie ihre Übung Lasko genannt. Sie stand ganz oben in einer Liste von insgesamt neun Einträgen. Die restlichen acht waren alle gleich benannt und fortlaufend nummeriert. Alin 1, 2, 3 und so weiter.
Aus Versehen rutschte der Mauszeiger in die zweite Reihe, ein Klick holte Alin 1 auf den Bildschirm. Der imposante Briefkopf Alfo Investment stach ihr in die Augen. Sie registrierte den Namen Markus Zurkeulen als Empfänger des Schreibens, samt einer Adresse in Frankfurt. Den Namen kannte sie von dem zerrissenen Blatt mit den großen Zahlen, das sie aus ihrem Mülleimer gefischt und zusammengepuzzelt hatte.
Der Brief enthielt einen nichts sagenden Text: «Wir sind überzeugt, mit unserem Angebot Ihren Wünschen in jeder Hinsicht zu entsprechen. Meine Mitarbeiterin wird sich in den nächsten Tagen bei Ihnen melden und gerne Auskunft auf Ihre Fragen geben.» Es schloss mit den üblichen freundlichen Grüßen und dem Namen des Verfassers oder Auftraggebers – Philipp Hardenberg.
Nun fiel ihr ein, wo sie den Namen Phillip gehört hatte. Sie sah sich den Empfangsraum von Behringer und Partner durchqueren, sah Frau Luici den Telefonhörer mit einer Hand abdecken, hörte sie flüstern: «Hardenberg.» Und der Zweimetermann mit der Stirnglatze riss den Hörer an sich und sagte: «Hallo, Philipp.»
Ein Anruf von Nadias Gefälligkeitsarbeitgeber genau in dem Moment, als sie das Büro des netten Herrn Reincke verließ, bis unter die Haarwurzeln beseelt von der berechtigten Hoffnung auf einen Job, den sie so nötig brauchte wie die Luft zum Atmen. Doch schon nach zwei Tagen kam die Absage! Und nun saß sie hier, weil Nadia für ein paar unbeschwerteTage mit ihrem Liebhaber eine Vertretung als schmollende Ehefrau brauchte.
Ein Zufall? Das glaubte sie nicht. Wenn Nadia sich nun schon mit dem Gedanken an eine sorglose Nacht mit ihrem Freund getragen hatte, als sie an dem Donnerstag Ende Juli in den Aufzug stieg? Wenn Nadia diese Nacht nur nicht hatte in Erwägung ziehen dürfen, um ihre Ehe nicht zu gefährden? Wenn Nadia eine Offenbarung erlebt hatte, als der Aufzug hielt und sie sich selbst gegenübertrat? Dann hatte Nadia – verdammt nochmal – keine Zeit verloren, ihre Interessen wahrzunehmen. Ohne einen Gedanken an die Bedürfnisse der Frau im grünen Kostüm zu verschwenden, hatte sie Philipp Hardenberg auf Behringer gehetzt und dafür gesorgt, dass eine andere eingestellt wurde.
Damit wurde plötzlich alles so gemein und niederträchtig. Es gab noch nicht den geringsten Beweis. Aber das Verhalten des Zweimetermannes stützte ihren Verdacht. Seine Worte klangen ihr noch im Ohr. «Darf ich erfahren, was an diesem Objekt für dich so interessant ist?»
Objekt, dachte sie bitter. Und dann hatte er von einem Wasserschaden erzählt. Wahrscheinlich hatte er über Hardenberg eine Versicherung abgeschlossen und wollte ein hübsches Sümmchen rausholen für seine Gefälligkeit.
Sie rief die anderen Dateien aus der Liste auf, fand in allen den gleichen Text und dasselbe Datum – 02.08. Das war der Freitag gewesen, an dem sie Nadia zum ersten Mal im Café an der Oper getroffen hatte. Die Anschriften wechselten, die Empfänger waren die Namen von dem zerrissenen Alfo-Investment-Blatt. Einer fehlte, war wohl von ihrem Lasko aus der Liste geschoben worden.
Sie schaltete den Laserdrucker ein. Nacheinander spuckte er die Schreiben aus. Wozu sie ihr nützen sollten, wusste sie nicht. Sie war weder für Philipp Hardenberg noch für Behringerwichtig genug, eine Absprache zu gestehen. Ein kleiner Versicherungsbetrug ließ sich auch nicht beweisen. Es war überflüssig, sich auszumalen, mit den Briefen zu Behringer zu gehen und Gewissheit zu erhalten. Und wenn es so gewesen war, wenn Nadia sie um den Job betrogen hatte, schuldete sie ihr mehr als Gewissheit, viel mehr als tausend Euro für eine Vertretung alle vierzehn Tage.
Eine Frau, die nichts entbehrte, die alles besaß, wovon andere nur träumen durften. Eine Frau, die nicht den Schimmer einer Ahnung hatte, wie es war, die eigene Mutter bestehlen zu müssen, nur um sich die Nudelrationen für die nächsten dreißig Tage zu sichern und einen weiteren Monat in einem dreckigen Loch neben den Bahngleisen hausen zu dürfen, den ständigen Schikanen eines vorbestraften Alkoholikers ausgesetzt. Diese Frau hatte sich erdreistet, ihre Doppelgängerin mit einem kleinen Loch in Mutters Alterssicherung
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