Die Lüge
begriff nicht, dass Nadia ihn betrügen konnte. Er war perfekt! Für sie jedenfalls war er es in der letzten Stunde und im Vergleich mit Dieter Lasko gewesen.
Die Türen zum Flur und zum Bad standen offen. Sie horchte in die Stille des Hauses, meinte irgendwo ein schwaches Ticken zu hören. Sein Wecker im Bad oder nur das Blut in ihren Ohren. Es summte, rauschte, schwoll an und ab. Was für ein Tag! Und was für eine Nacht! Panik, Erregung, Erlösung, Triumph und die Gewissheit, Nadia als Ehefrau vertreten zu können bis zur letzten Konsequenz.
Irgendwann schlief sie ein, vielleicht um drei, vielleicht erst um vier. Da es keine Uhr im Schlafzimmer gab, gab es nichts, woran sie sich orientieren konnte. Wider Erwarten schlief sieruhig und traumlos. Als sie erwachte, lag sie allein im Bett. Tageslicht flutete durch den Raum, und sie hatte weder gehört, dass der Rollladen nach oben gehievt wurde, noch gespürt, dass er das Bett verließ.
Es war deprimierend. Freitag, der Dreizehnte, dachte sie flüchtig. Aber das war es nicht. Es war einfach so wie immer; aufwachen und allein sein. Nein, es war schlimmer als sonst, weil sie erlebt hatte, wie es war, mit einem zufriedenen Mann einzuschlafen. Sie hatte damit gerechnet, neben ihm aufzuwachen, noch ein paar Minuten mit ihm zu haben, ihm irgendwie begreiflich zu machen, dass die vergangene Nacht nichts Besonderes gewesen war und es nicht lohnte, darüber noch ein Wort zu verlieren.
Wenn er nun heute Abend fragte: «Warst du beim Arzt?» Wenn er sagte: «Du warst so anders gestern.» Wenn er irgendeine verräterische Bemerkung machte. Es gab tausend Möglichkeiten, Nadia begreifen zu lassen, dass sie nicht die schmollende, sondern schlicht die Ehefrau gespielt hatte. Es gab keine Möglichkeit, das zu verhindern. Und verhindern musste sie es. Unbedingt!
Die Erinnerung war noch frisch. Entsprechend groß war das Bedürfnis nach einer Wiederholung. Aber wenn Nadia davon erfuhr? Mit untrüglichem Instinkt begriff sie, dass Nadia ihr nicht umsonst Ratschläge erteilt hatte, wie sie sich Michael vom Leib halten konnte. Nach den Erfahrungen der letzten Nacht schienen die guten Tipps nicht länger dazu gedacht, die Vertretung keinesfalls über Gebühr zu beanspruchen. Eine Labormaus mochte als Fehltritt verzeihlich sein, eine Frau dagegen, die dem eigenen Ich so ähnlich war wie ein Spiegelbild, stellte viel eher eine Gefahr dar.
Um sich nicht in dem elenden Gefühl zu verlieren, den besten Beweis für das Gelingen der Täuschung geliefert und trotzdem versagt zu haben, stand sie schnell auf, strich dasBettzeug glatt, legte den Überwurf darüber und ging ins Bad. Der Wecker war vom Bodenregal verschwunden. Ein Blick auf Nadias Armbanduhr zeigte Viertel nach neun.
Unter der Dusche begann sie, nach Argumenten zu suchen. Wenn sie es geschickt formulierte, vielleicht gelang es ihr, die Sache als einen Pluspunkt hinzustellen. «Ich habe die Tampons rausgenommen und mehrfach nein gesagt, er hat sich nicht darum gekümmert. Als ich sah, dass ich nichts ausrichten konnte, ohne ihn stutzig zu machen, habe ich mir Mühe gegeben, dass er nichts merkt. Und er hat nichts gemerkt.» Der Rest blieb abzuwarten und hing wohl davon ab, wie viel Wert Nadia noch auf außerhäusliche Vergnügen legte, wenn ihr Mann während dieser Zeit ebenfalls mühelos auf seine Kosten kam.
Sie duschte ausgiebig, cremte sich von Kopf bis Fuß aus Nadias Bestand ein, benutzte Nadias Make-up und holte sich Rock und Bluse von Nadia aus dem Ankleidezimmer, um das graue Kostüm zu schonen. Dann wollte sie das Fernsehzimmer aufräumen, konnte sich jedoch nicht überwinden, es zu betreten. Das Badetuch lag noch auf der Couch, die Kissen, seine Kleidung und das zweite Tuch am Boden. Es war alles noch so lebendig im Kopf, dass sie die Tür rasch wieder schließen musste, um nicht loszuheulen.
Um zehn saß sie in der Küche vor ihrem Frühstück. Auf dem Tisch hatten zwei Briefkuverts, die FAZ und die regionale Tageszeitung gelegen, als sie hereinkam. Die Kuverts waren an Nadia adressiert, eines trug als Absendervermerk nur die vorgedruckte Anschrift eines Hotels in Nassau, das zweite kam von einer Schweizer Bank aus Zürich. Sie legte beide zur Seite, ebenso die FAZ, und blätterte ohne Interesse in der Tageszeitung.
Um elf saß sie am Schreibtisch, startete lustlos das Textprogramm, um ihre Einladung von Behringer und Partner zulöschen. Mit der Nacht im Blut war das nur noch die Spielerei einer Frau, die gar nicht
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