Die Luft, die du atmest
sie tot. Sie war elf.»
Früher hatte sich Ann mit Libby über alles unterhalten – Beziehungen, Muttersein, Glück und Unglück. Sie hatten ihre Freundschaft als etwas Selbstverständliches hingenommen, aber auch die schweren Zeiten miteinander durchgestanden.
«Was glaubst du, Ann, welches von beiden ist der bessere Tod?»
Ann legte sich das Kind an die Schulter und rieb ihm den Rücken. Jacob schmiegte seinen Kopf genauso in ihre Halsbeuge wie William früher. Sein federleichter Atem kitzelte sie. Sie presste ihn an sich. Ein plötzlicher Tod war das Schlimmste, das wusste sie. «Ach, Shazia», sagte sie hilflos.
Der Regen malte Streifen an die Fenster und bildete Pfützen auf dem Sims, ins Zimmer schlich sich silbriges Licht. Bald würde es hell werden. Ann konnte die Umrisse von Shazias Profil erkennen, die Linie ihrer Wangen, den Bogen ihrer Schultern.
«Peter hat gesagt, er will heute Morgen weg.» Ihre Stimme war leise. «Ich möchte mit ihm gehen.»
Es klang, als wollte sie Ann um Erlaubnis bitten. Aber Ann konnte und wollte nicht ihren Segen dazu geben. «Wo willst du unterkommen?»
«Im Studentenheim. Dort gibt es bestimmt längst wieder Platz.»
«Nein, Shazia. Das ist doch unmöglich. Du wärst in ständiger Gefahr. Das weißt du.» Ann legte sich das Baby wieder in die Armbeuge und steckte ihm den Sauger wieder in den Mund. Jacob sah sie mit großen Augen vertrauensvoll an. Wie lange war das her. Sie küsste ihn auf den Kopf. «Dies ist jetzt dein Zuhause, Shazia.» Das war die Wahrheit. «Und deine Eltern glauben auch, dass du hier bist.»
«Meine Eltern erwarten von mir, dass ich selbst für mich sorge.»
Was für eine merkwürdige Aussage. Ann sah sie an. «Was ist, Shazia? Was ist passiert?»
Shazia zuckte die Achseln und stierte aus dem Fenster in den strömenden Regen. Die Hände hatte sie im Schoß gefaltet.
«Shazia?»
Doch die junge Frau weigerte sich, sie anzusehen.
Nachdenklich betrachtete Ann ihre verschränkten Hände. Seit Wochen aß Shazia wie ein Spatz. Ständig weinte sie hinter verschlossener Tür. Ständig legte sie sich zum Schlafen hin, und dauernd studierte sie den Kalender, wenn sie sich unbeobachtetglaubte. Plötzlich passte alles zusammen. Ann hielt die Luft an.
Shazia war schwanger.
Aber … wer war der Vater?
Anns Blick wanderte zu Peter.
EINUNDDREISSIG
Maddie lehnte an der Tür zum Hauswirtschaftsraum und bummerte mit dem Absatz ans Holz. «Aber ich will nicht, dass du gehst.»
Peter rollte eine Jeans zusammen und stopfte sie in seine Reisetasche. «Ich werde ja nicht weit sein, Schatz. Bloß ein paar Minuten.»
Zwanzig Minuten oder zehn Meilen. Irgendwo auf dem Weg würde er anhalten und ein paar Lebensmittel kaufen. Vielleicht würde er an einem Supermarkt vorbeikommen, der geöffnet hatte, oder an irgendeinem Kiosk. Eine Tankstelle würde schon reichen. Auf dem Weg zu seiner Wohnung würde er an mehreren vorbeikommen. Er brauchte nicht viel. Er konnte eine ganze Weile von Erdnussbutter und Schokoriegeln leben. Und wenn er keine bekam, würde er einfach was anderes nehmen. Er zog den Reißverschluss zu und sah Maddie an. Ihr Mund war nach unten verzogen, und sie blinzelte in einem fort, um die Tränen zurückzuhalten. Er ging zu ihr, kniete sich vor sie und umfasste ihre kleinen Hände. «Sobald ich mich eingerichtet habe, kannst du zu Besuch kommen.»
«Warum kann ich nicht gleich mit?»
Die Antwort kam von Kate an der Tür. «Weil er das nicht will.»
Peter blickte auf. Kates Gesicht war wutverzerrt. «Kate»,setzte er an, aber sie drehte sich abrupt um und stürmte davon. Er hörte, wie sie etwas sagte, und Anns gedämpfte Antwort.
«Stimmt das, Dad?»
Er drückte sanft Maddies Hände. Es war ihm schon beim ersten Mal schwer genug gefallen, sie zu verlassen. «Natürlich will ich dich und Kate bei mir haben, aber du kennst doch meine Wohnung.»
Sie schob die Unterlippe vor. «Du hast nur ein Bett.»
«Richtig. Ich muss erst noch ein paar Sachen organisieren. He, ich hab eine Idee. Wie wär’s, wenn du mir noch ein Bild malst, das ich an die Wand hängen kann? Wie wär’s mit einem Sonnenuntergang?»
Sie trat noch ein paarmal gegen die Tür, dann entzog sie ihm ihre Hände und ging.
Peter stopfte noch ein Hemd in die Tasche, zog den Reißverschluss zu und stellte sie in den Flur.
Ann blickte vom Sofa auf, wo sie mit Jacob auf dem Schoß saß. Kate saß krumm und mit böser Miene neben ihr, und auf der anderen Seite saß Maddie, ihren
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