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Die Luft, die du atmest

Die Luft, die du atmest

Titel: Die Luft, die du atmest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Buckley
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sie. Sie mussten jedes Gramm sparen. Wer weiß, wann sie wieder welche bekommen würden. Siehielt das Fläschchen im Dunkeln hoch, um besser zu sehen, und schraubte den Sauger auf.
    Shazia saß im Wohnzimmer. Sie schaukelte Jacob und versuchte ihm einen Schnuller in den Mund zu schieben. Jedes Mal, wenn der Kleine den Mund aufmachte und ihn mit der Zunge wegschob, steckte sie ihn wieder hinein.
    «Er erinnert mich an meinen Neffen», sagte sie leise. «Der konnte auch so wütend werden.»
    Die Sehnsucht in ihrer Stimme war deutlich zu hören. «Willst du ihn füttern?»
    «Ich glaube, er will lieber von dir gefüttert werden.» Shazia stand auf und legte Ann das strampelnde Kind in den Arm.
    «Hallo, kleiner Freund.» Ann umschlang ihn fest und machte es sich im Sessel bequem.
    Jacob riss den Mund auf. Der Schnuller fiel zu Boden. Ann schob ihm den Sauger in den Mund. Seine Lippen schlossen sich, und er öffnete die Augen. Er starrte sie an. Zögernd fing er an zu trinken. Die Augen fielen ihm zu, und sein Körper entspannte sich. Ann wiegte ihn im Arm, lauschte dem Regen, genoss die schlichte Freude, ein Baby zu füttern.
    Shazia nahm auf dem Sofa gegenüber Platz. «Wenn es regnet, heißt das, der Winter ist vorbei?»
    «Leider nein. Tauwetter kriegen wir zwischendurch immer mal wieder. Es hält nie lange. Es kann schon morgen wieder Schnee geben.»
    Shazia schüttelte sich. «Sag das bloß nicht. Ich will nie wieder Schnee sehen. Ich kann gern aufs Schlittenfahren verzichten.»
    Sie lächelten sich über Jacobs Kopf hinweg zu.
    Shazia schlug die Füße unter ihre Beine. «Unser größtes Problem in Ägypten sind die Sandstürme. Da kann man überhaupt nicht vor die Tür.»
    «Ich war noch nie in Ägypten. Aber ich habe mich mit ägyptischer Kunst beschäftigt. Ich würde sie wahnsinnig gern mal in echt sehen.»
    «Dann musst du im Februar fahren. Das ist die beste Jahreszeit.»
    Bis Februar waren es nur noch ein paar Wochen. Ann stellte sich vor, wie sie unter herrlich blauem Himmel durch warme sonnendurchflutete Straßen spazierte und die Mädchen lachend herumliefen und lauter wunderbare Entdeckungen machten.
    Shazia seufzte. «Ich halte es nicht mehr aus.»
    Ann hob den Kopf und sah, wie sie aus dem Fenster starrte.
    «Ich kann einfach nicht mehr, Ann.»
    Ann verspürte Mitleid mit der tapferen jungen Frau, die bisher kein Wort der Klage geäußert hatte. «Ach, Shazia, ich weiß. Aber es dauert bestimmt nicht mehr lange.» Die gleichen Worte, mit denen sie ihre Töchter tröstete, der gleiche besänftigende Ton. «Du hast bloß den Winterblues.» Den kannte Ann gut. Wie oft war sie schon verzweifelt im Haus auf und ab gelaufen und hatte auf die Sonne gewartet.
    «Ich weiß nicht, was ich machen soll. Peter ist auch so seltsam geworden. Ist dir das nicht auch aufgefallen? Seitdem das Haus abgebrannt ist   … Er redet nicht. Er läuft bloß dauernd auf und ab.»
    Genauso war Peter nach Williams Tod gewesen. Wenn er überhaupt etwas sagte, dann waren es Nichtigkeiten. Ob sie das Auto wohl noch ein Jahr behalten könnten. Ob Kate vielleicht das Stück sehen wollte, das mit den tanzenden Pilzen. «Wir sind alle erschöpft. Wir müssen einfach durchhalten. Das weißt du besser als wir.»
    «Das ist es ja gerade, Ann. Ich weiß genau, dass dies erst dieerste Welle ist. Wie sollen wir denn bloß achtzehn Monate auf diese Weise überstehen?»
    «So dürfen wir nicht denken. Es geht nicht anders, wir müssen von einem Tag zum andern leben.» Unwillkürlich schaukelte Ann das Kind heftiger. Jacob protestierte leise. «Tut mir leid, mein Kleiner», murmelte sie. «Entschuldigung.»
    «Letztes Jahr ist mein Großvater gestorben. Er hat viele Wochen gelitten und schließlich Essen und Trinken verweigert. Er hat uns nicht mehr erkannt. Er hat mit Gespenstern geredet, die nur er sehen konnte. Ganz klein ist er geworden, und fremd. Wir waren alle erleichtert, als er   … endlich starb.» Jetzt weinte Shazia. Ann hörte es am Klang ihrer Stimme.
    Peter schlief. Er war so tief unter seinen Decken vergraben, dass er kaum zu sehen war. Konnte Ann ihn mit dem Fuß anstupsen? Das Baby reckte den Arm und schlug ihr ans Kinn. Sie hielt seine Hand fest und drückte sie an ihre Lippen.
    «Auch meine beste Freundin habe ich sterben sehen.» Shazia wischte sich mit den Fingern über die Wangen. «Ein Motorrad hat sie auf dem Bürgersteig überfahren. Im einen Moment war sie lebendig und unterhielt sich mit mir, und im nächsten war

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