Die Luft, die du atmest
durchsetzt. Aus den Ärmeln ragten gelbliche Knubbel. Weiter hinten erkannte er etwas Größeres – bleiche Knochen und einen Totenschädel. Walter Finn. Die braune Masse musste das sein, was von seinem Fleisch noch übrig war. Sie war übersät von Fliegen und zappelnden Maden.
Peter trat einen Schritt zurück.
Der Mann war in seiner sicheren Festung zusammengebrochen. All seinen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz hatte das Virus hineingefunden.
Zum ersten Mal packte Peter wirklich die Angst. Sie waren ganz auf sich allein gestellt. Nichts und niemand würde sie retten. Sie mussten es selbst tun.
ACHTUNDDREISSIG
Ann öffnete den Schrank im Hauswirtschaftsraum und betrachtete den Stapel mit Stofftaschen – Werbegeschenke, die Peter von Tagungen mitgebracht hatte. Wie viele konnte sie tragen? Sie hielt eine an den Henkeln hoch. Sie wirkte lächerlich klein. Lieber den ganzen Haufen mitnehmen.
«Mach dir keine Sorgen um Shazia», hatte Peter gesagt.
Ann konnte es immer noch nicht glauben. Sie hatte sich vollkommen getäuscht. Peter und Shazia waren einfach bloß Kollegen. Sie war unglaublich erleichtert. Ohne genau zu wissen, warum es sie so sehr erleichterte.
Sie nahm den Schlüssel vom Messinghaken an der Hintertür und ging ins Wohnzimmer. Maddie kniete auf ihrem Malbuch, damit es offen blieb. Mit einer Hand hielt sie sich die Nase zu.
Ann blieb stehen. «Wo ist Kate?»
Maddie deutete mit dem Kinn zur Badezimmertür. «Sie wäscht sich mal wieder die Haare.»
Arme Kate. Das Wasser war eiskalt, aber sie ließ nicht davon ab, sie täglich zu waschen. Immer wieder tauchte sie den Kopf ins eiskalte Waschbecken und kreischte jedes Mal auf. Sie wollte sich nicht von Ann helfen lassen und kam hinterher schaudernd und mit hochrotem Gesicht aus dem Bad, das Haar in ein Handtuch gehüllt. Jetzt war es hinter der Tür still, vielleicht war sie schon beim Abtrocknen. Oder auch nicht.
Ann ging an die Tür und klopfte.
«Was ist?», fragte Kate gereizt.
«Nichts», sagte Ann. Sie sah Maddie an. «Warum hältst du dir die Nase zu?»
Maddie zeigte mit dem Kopf auf Jacob, der neben ihr auf dem Bauch lag. «Was ist, wenn er macht?»
Ann deckte die nackten Beine des Babys wieder zu. Sie hatte ihn mit Vaseline eingeschmiert und ohne Windeln hingelegt, weil sie hoffte, dass so der furchtbare Windelausschlag rasch heilen würde, der sich über Nacht auf seinem Po und den Schenkeln ausgebreitet hatte. Waschlappen waren kein guter Ersatz für Windeln.
«Pass bitte auf, dass er zugedeckt bleibt.» Sie stand auf und zog ein Paar Latexhandschuhe über. «Ich habe Dads Essen hinten vor die Tür gestellt. Kann sein, dass er anklopft, um uns Bescheid zu sagen, wenn er fertig ist, aber geh nicht an die Tür.»
Maddie nahm die Finger von der Nase. «Ja-ha.»
«Ich bin in ein paar Minuten wieder da.»
Sie rechnete damit, dass Maddie sie fragen würde, wo sie hin wollte, aber ihre Tochter nickte bloß und wandte sich wieder ihrer Zeichnung zu.
Der Rasen war nass, und ihre Füße sackten ein. Nachmittagssonne tauchte alles in sanftes Licht. Sie trat an die Tür des Nachbarhauses und hob den Türklopfer. Das Geräusch verhallte, ohne dass jemand kam. Sie schaute durch das schmale Fenster. Der lange Flur lag still und leer vor ihr.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Es klickte. Sie starrte auf den Türknopf. Das Virus konnte sich an der frischen Luft nur wenige Stunden halten. Es musste tot sein. Sie hatte Handschuhe an. Sowie sie wieder draußen war, würde sie sie wegwerfen. Warum stand sie also wie angewurzeltda, mit laut pochendem Herzen? Es war nicht das Virus, vor dem sie Angst hatte, sondern das, was es hinterlassen hatte.
Der Türknopf ließ sich leicht bewegen. Sie trat ein und fühlte sich wie von unsichtbaren Zeugen beobachtet. Sie warf die Tür hinter sich zu.
Und stand im schattigen Flur.
Jetzt schlug ihr der Geruch entgegen. Schwer und süßlich und unsagbar widerlich. Sie erkannte ihn. Genauso hatte der Singvogel gestunken, der letztes Jahr in ihrer Garage gestorben war. Als Ann ihn entdeckt hatte, krochen die Maden schon über die Federn. Ihr war sofort übel geworden.
Jetzt gab es also keinen Zweifel mehr. Sie schluckte.
Wo waren sie?
Die Zimmer zu beiden Seiten waren leer, das Wohnzimmer mit den Bücherregalen, das Esszimmer mit dem auf Hochglanz polierten Tisch und dem antiken Büfett in der Ecke. Ann hatte Libby geholfen, die Aquarelle aufzuhängen. Auch den schweren Spiegel
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