Die Luft, die du atmest
Peter hatte immer davon geredet, dort mal ein Freisemester oder zwei verbringen zu wollen und sie und die beiden Mädchen mitzunehmen. Wenn das Schicksal anders gespielt hätte, wären sie vielleicht gerade jetzt dort, in einer kleinen sicheren Enklave, wo keiner krank wurde.
«Australische Aborigines?» Maddie drehte den Kopf und blickte zu Ann empor. «Etwa dieselben, die aus Punkten Bilder machen?»
Ann lächelte. «Kann schon sein.»
«Moment.» Kates Blick wanderte zwischen Ann und Peter hin und her. «Ihr meint, es gibt Menschen, die nicht krank werden?»
«Scheint so», sagte Peter.
«Aber … wie kann das sein?»
«Das weiß keiner. Die WHO hat ein Team von Biologen hingeschickt, um zu erforschen, warum das so ist.»
«Dr. Antony ist in Stockholm.» Shazia schob ihren Stuhl vom Tisch. «Vielleicht ist er in dem Team. Es wäre gut, wenn wir mit ihm reden könnten. Würde Mr. Finn uns nochmal ins Netz lassen?»
Peter schüttelte den Kopf. «Wir sollten es lieber telefonisch versuchen.»
Shazia sah auf die Uhr und stand auf. «Die Auslandsgebühren –»
Ann winkte die Frage fort. «Darüber mach dir mal keine Gedanken.»
Maddie rutschte sich von ihrem Schoß. «Bist du fertig, Dad? Kannst du mir jetzt vorlesen?»
«Klar», sagte Peter.
«Du bist acht», motzte Kate. «Alt genug, um selbst zu lesen.»
«Und du bist dreizehn», entgegnete Maddie. «Alt genug, um dich da rauszuhalten.»
Dann war es jetzt also offiziell. Die Vogelgrippe war zu einer Pandemie geworden. Ann dachte an die schrecklichen Fotos von der Spanischen Grippe 1918, mit den endlosen Reihen anonymer weißer Betten mit Kranken und Sterbenden, so weit das Kameraauge reichte. Irgendwo, vielleicht sogar in ihrer eigenen Stadt, gab es mit Kranken gefüllte Räume. Aber sie würden nicht reichen. Um all die Kranken dieser Pandemie aufzunehmen, würde man riesige Lager brauchen. Flugzeughallen. Die Fläche sämtlicher Maisfelder von Ohio wäre noch zu klein.
Sie sah zu, wie ihre Kinder aus dem Zimmer gingen, wie der Mann, mit dem sie verheiratet war, seinen Teller vom Tisch nahm und sich der jungen Frau zuwandte, die durch die Umstände zur Waise geworden war. Solange sie in diesen Wänden blieben und solange sie andere von sich fernhielten, konnten sie sicher sein, dass sie nicht als Namenlose auf einem Foto enden würden, auf das spätere Generationen staunend einen flüchtigen Blick warfen, bevor sie weiterblätterten.
Ann war dabei, die Bettdecken über die Schlafsäcke zu breiten, als Peter wieder ins Zimmer kam. Die Mädchen saßen mit Shazia am Küchentisch und spielten irgendein Kartenspiel, bei dem sie ständig kichernd auf den Tisch hauten. «Peter», sagte sie leise. «Wir müssen auf Kate aufpassen. Ich hab das Gefühl, sie will versuchen, sich nachts heimlich aus dem Haus zu schleichen.»
«Wir liegen hier doch wie die Sardinen beieinander.» Er befestigte ein Stück Klebeband, das sich von der Plastikverkleidungvor den Fenstern gelöst hatte. «Es kann uns gar nicht entgehen, wenn sie aus dem Bett klettert. Und außerdem würde Maddie sie sofort verpetzen.»
«Vermutlich hast du recht. Aber trotzdem. Hilf mir, auf sie aufzupassen.»
«Klar.» Er stocherte im Feuer, dass die Funken stoben. «Hör zu, wir müssen die Garage unbedingt immer abschließen, auch tagsüber. Sonst kommen Leute und klauen unser Benzin.»
Sie starrte zu ihm auf. «Hier in unserer Gegend?»
«Überall. Keiner hat mehr Arbeit. Die Leute sind verzweifelt.»
Ihre Schwester war heute Morgen entlassen worden. Als Beth zur Arbeit kam, waren die Türen verschlossen gewesen. Am Eingang hatte ein Zettel gehangen. «Hat Shazia schon etwas aus Schweden gehört?»
«Sie hat eine Nachricht hinterlassen. Antony ruft bestimmt zurück, sobald er kann.»
«Wäre es nicht leichter, ihm eine Mail schicken?»
«Natürlich.» Er hängte den Schürhaken wieder an den Ständer und zog das Feuergitter zu. «Aber Finn sitzt in seinem Palast und will um keinen Preis, dass jemand weiß, dass er Strom hat. Er hat Schiss, dass ihm sonst sämtliche Nachbarn auf der Matte stehen.»
Ann dachte daran, wie Libby darum kämpfte, das Haus warm zu halten, und an die alte, schon ziemlich schwache Mrs. Mitchell von gegenüber. Wütend sagte sie: «Er kann nicht damit rechnen, dass so was allzu lange geheim bleibt.»
«Ich weiß.» Peter klopfte die Asche von der Hand. «Ehr lich gesagt, tut er mir leid, wie er sich da in seinem Loch verschanzt. Er hat
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