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Die Luft, die du atmest

Die Luft, die du atmest

Titel: Die Luft, die du atmest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Buckley
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Schlittschuhlaufen gelernt hatten. Dort wurden die Toten von Columbus gelagert.
    Sein Blick wanderte über den leeren Parkplatz. Sein Pick-up war das einzige Fahrzeug weit und breit.
    Vielleicht lag es nicht daran, dass die Leute zu Hause blieben. Vielleicht waren sie alle tot.
    Er stieg aus und stopfte die Zeitung in die nächste Mülltonne.

VIERUNDZWANZIG
    Sie hatten schon so viel aufgegessen.
    Ann zählte die Dosen und Schachteln noch einmal durch, als könnten sie sich dadurch wie durch Zauberhand vermehren. Wobei sie natürlich davon ausgegangen war, drei Leute ernähren zu müssen, und nicht fünf.
    «Erzähl uns noch eine Geschichte, Shazia.»
    «Was denn für eine?»
    «Erzähl uns von deiner Familie.»
    Wie viel hatte sie über die Jahre weggeschmissen, ohne sich die leisesten Gedanken zu machen. Reste, die nicht mehr für eine ganze Mahlzeit reichten. Spaghetti, mit denen sie die Kerzen auf den Geburtstagstorten angezündet hatten. Allein die hätten inzwischen bestimmt für eine ganze Mahlzeit gereicht. Salatköpfe, die im Gemüsefach des Kühlschranks welk geworden waren. Vielleicht sollte sie alles auf einen Tisch vor dem Haus packen und ihren Nachbarn zum Tausch anbieten. Ein Gläschen Pinienkerne gegen ein Glas Traubengelee oder, verflucht, einen Apfel. Was würde sie für frisches, saftiges Obst geben. Für ein Glas Milch. Brokkoli. Grün, die Farbe des Lebens.
    «Na gut, mal sehen. Mein Vater ist Kinderarzt, und meine Mutter ist Schönheitspflegerin.»
    «Was ist das?»
    «Eine Schönheitspflegerin? Die macht Leuten die Haare und das Make-up. Meistens Frauen. Die Männer in Ägypten tragen nicht viel Make-up.»
    Weihnachten. Ein Tag nach dem Feuer, der vierte ohne Telefon, der achtundzwanzigste ohne Strom. Sie führte im Geiste genau Buch über die Verluste und merkte sich die Tage. Heute war Mittwoch. Morgen war Donnerstag. Alles, was üblicherweise die Tage voneinander unterschied, war aus ihrem Leben verschwunden. Sie musste schlicht zählen und sich die Daten merken.
    «Hat sie dir auch beigebracht, wie man sich schminkt?»
    «Ja, ein paar Tricks schon, zum Beispiel, dass man die Wimpern vor dem Tuschen formt. Und dass bei manchen Frauen ein Lidstrich auf dem unteren Lid die Augen kleiner wirken lässt.»
    Auch Shazia zählte die Tage. Ann hatte gesehen, wie sie ihren Terminkalender studierte und mit dem Finger über die kleinen Quadrate fuhr, während sie lautlos die Zahlen vor sich hin sagte. Jetzt saß sie im Schneidersitz mit den Mädchen im Wohnzimmer. Sie hatten die Schlafsäcke und Kissen an den Rand geschoben und sich in einen Halbkreis gesetzt. Vermutlich würde bald eine von ihnen in die Küche kommen und sich ein Glas Wasser holen. Oder an die Tür gehen, um durch die Scheibe hinauszugucken. Inzwischen putzten sich alle im kleinen Gästeklo die Zähne, zogen sich dort an und wuschen sich mit einem Waschlappen Gesicht und Hals. Keiner ging mehr nach oben. Keiner ging mehr in den Keller. Ihre ganze Welt war auf die paar Zimmer im Erdgeschoss zusammengeschrumpft.
    «Warum bist du nicht auch Schönheitspflegerin geworden?»
    «Als ich klein war, hatten wir einen Hund. Eine Hündin, die Fila hieß. Ich liebte sie sehr. Sie fraß mir aus der Hand, undwenn sie etwas haben wollte, hob sie die Pfote und legte den Kopf schräg. Sie war unheimlich süß. Nachts schlief sie auf einem Kissen am Kopfende meines Bettes.»
    Ann lehnte die Stirn gegen das Glas der Schiebetür. Draußen regte sich nichts. Alles war bloß schwarz, braun oder weiß. Wie satt sie es hatte, immer dieselben Häuser, dieselben Bäume, dieselben leeren Wege zu sehen. Wäre sie doch bloß mit Peter gefahren.
    «Und dann?»
    «Dann wurde sie krank. Der Arzt meinte, er könne ihr nicht helfen. Sie wurde immer dünner, bis sie eines Tages einfach starb. Ich war lange Zeit sehr traurig. Deshalb hat meine Mutter mir vorgeschlagen, später doch vielleicht Ärztin zu werden, damit ich den Hunden anderer kleiner Mädchen helfen könnte, nicht krank zu werden.»
    «Und das hast du dann gemacht?»
    «Nicht ganz. Ich wollte bei eurem Vater studieren. Deshalb habe ich mich für ein anderes Forschungsgebiet entschieden. Dein Vater erzählt Leuten immer, er habe mich überredet, aus Kairo hierherzukommen, aber so war das nicht. Ich habe ihn überredet, mich einzustellen.»
    Ann hatte vorm Haus gestanden, während Peter in der Straße den Müll eingesammelt hatte. Niemand war herausgekommen, um zu helfen. Aber zugeguckt hatten sie. Ann hatte

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