Die Luft, die uns traegt
nicht. Er denkt, dass sie noch nie ganz ehrlich zu ihm war. Über ihre Gefühle für ihn, für Richard. Über alles, was passiert ist.«
»Und was denkst du?«
»Ich bin mir nicht sicher«, gibt Scarlet zurück. Sie erzählt Tom nicht, wie unbehaglich sie sich bei all dem fühlt, gefangen zwischen ihrer lieben alten Freundin – der Großmutter des kleinen Zellhaufens, den sie in sich trägt – und dieser eigenartigen, alten und doch auch neuen Liebe. Sie weiß nicht genau, was sie denkt, und sie hat das unbestimmte Gefühl, sich sowohl Cora als auch Bobby gegenüber illoyal zu verhalten.
»Manchmal weiß ich nicht, was in ihr vorgeht«, fährt sie fort. »Du lieber Himmel, so geht es mir eigentlich mit allen dreien – Cora, Lou, Addie. Sie mögen einander ja verstehen, aber ich verstehe sie auf jeden Fall nicht immer …« Sie hält inne, weil ihr plötzlich klar wird, dass sie noch nicht weiß, wie sie über Addie in der Vergangenheit sprechen soll.
»Ging es dir so mit Addie in diesen letzten Wochen, Scarlet? « Tom fährt langsamer und sieht sie an.
»Nein«, flüstert sie. »Überhaupt nicht.«
»Mir auch nicht«, sagt er, als der Delaware in Sicht kommt und einen Augenblick lang die gesamte Windschutzscheibe ausfüllt, ehe die Straße sich scharf nach Norden krümmt. »Ich
fand sie im letzten Jahr weniger rätselhaft und verschlossen als seit Jahren, eigentlich seit wir uns kennenlernten.«
Ganz kurz befürchtet Scarlet, Tom könnte zu weinen anfangen. Es ist keine Zeit für Tränen, denkt sie. Sie haben zu viel zu tun, bevor die Sonne aufgeht. Und Scarlet hat noch einige Fragen, die sie stellen muss, solange sie hier in diesem seltsam zeitlosen und anonymen Führerhaus des großen, lärmenden Lkws sitzen, mit Addies kleinem, stillem Leichnam im Rücken.
Doch anstatt zu weinen, lacht er. »Weißt du«, sagt er, »wahrscheinlich sind die einzigen Momente, in denen wir einander nicht rätselhaft sind, wenn wir uns verlieben, und dann wieder, wenn einer von uns stirbt. Neue Liebe macht uns eine Zeitlang für alles blind, was wir nicht wissen. Meinst du nicht?«
Er lächelt Scarlet an, und sie erwidert das Lächeln, diese letzte Bemerkung bezieht sich natürlich auf sie und ihre derzeitige Situation. Sie räuspert sich und murmelt: »Schon möglich. « Bevor ihr noch etwas anderes einfällt, was sie fragen könnte, geht Tom wieder vom Gas und dreht ihr das Gesicht zu.
»Liebst du Bobby, Scarlet?«
Sie holt tief Luft und atmet langsam aus, diese Frage musste kommen. »Ich glaube schon.« Und dann blickt sie aus dem Fenster, ohne etwas Konkretes anzusehen.
»Denn, weißt du«, sagt Tom, »ich würde dich dabei unterstützen, dieses Kind zu bekommen, auch ohne ihn.«
Scarlet betrachtet Tom, der nun wieder angestrengt auf die Straße starrt. Einen Moment lang überkommt sie der Drang, sich in seine Arme zu kuscheln, wie sie es als Kind immer getan hat. Doch dann stellt sie sich Bobby vor, als sie ihm erzählte, dass sie schwanger ist. Wie sein Gesicht sich in einer merkwürdigen Mischung aus Freude und Angst und allem dazwischen auflöste, wie sich all diese Gefühle in seinen Augen
spiegelten, wie er den Mund bewegte, ähnlich einem Zeitrafferfilm vom Himmel, vom Wetter. Ein Spiegel, ein Abbild ihrer eigenen verworrenen Empfindungen. Eine Karte ihrer eigenen Gefühlslandschaft.
Statt die Arme nach ihrem Vater auszustrecken, nickt sie nur in seine Richtung. »Danke, Tom«, sagt sie.
Auch ohne ihn , denkt sie.
Liebt sie Bobby?
Sie glaubt, ihn zu verstehen.
Sie weiß, dass sie sein Kind bekommen möchte.
Wenn sie jetzt mit Bobby schläft, hat sie das Gefühl, eine zweite Chance für etwas bekommen zu haben. Aber sie hat keine Ahnung, was das sein könnte.
Ergibt all das zusammengenommen Liebe?
Zuerst hat sie ihn kaum erkannt, als er an der Tür klopfte. Mit seinen blutunterlaufenen Augen und dem ungekämmten Haar und seit einer Woche unrasiert erinnerte er mehr an den alten Bobby als an den Geschäftsmann im grauen Anzug, mit dem sie sich fünf Jahre vorher in der Bar getroffen hatte. Wenn man von dem Staub und der Asche absah.
»Bobby?«, fragte sie ungläubig. Sie dachte, sie hätte vielleicht Halluzinationen. Immerhin war der ganze Tag schon so gewesen, seit sie den Fernseher angestellt und begriffen hatte, dass die Szene, die sie dort sah – ein Flugzeug, das in die Türme des World Trade Centers flog –, real war.
»Ich bin den ganzen Tag gelaufen«, sagte er. Seine Zähne klapperten. »Du
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