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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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setzen.
    »Lou, ich habe versucht, Männer kennenzulernen und mich durch alle Betten zu schlafen, und weißt du, was?«, sagte sie. »Ich finde es furchtbar . Okay? Es ist leer, und es höhlt die Seele aus, mal ganz abgesehen davon, dass es gefährlich ist. Weißt du, die Welt ist heute anders als damals, als du in meinem
Alter warst.« (Nur wenig war effektiver, wusste Scarlet, als Lous Alter zu erwähnen, wenn man sie mundtot machen wollte.) »Vielleicht hast du ja schon mal von einer lästigen kleinen Krankheit namens AIDS gehört?«
    Daraufhin starrte Lou sie eine Zeitlang wortlos an. Endlich schüttelte sie den Kopf. »Mein Gott, Scarlet, du klingst wie ein puritanischer alter Republikaner. Was um Himmels willen ist mit dir los?«
    »Ich weiß es nicht«, flüsterte Scarlet, und dann brach sie in Tränen aus. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist.« Die Wahrheit lautete, dass sie sich auf der Fahrt nach Cider Cove an jenem Silvestertag geschworen hatte, im neuen Jahr die Sache mit Alex zu beenden und irgendwie ihr Leben neu zu ordnen. Sie hatte ihn seit vor Weihnachten nicht mehr gesehen und ihn gebeten, sie nicht anzurufen. Vielleicht, dachte sie, während sie auf dem Garden State Parkway Richtung Süden fuhr, würde sie sogar aus New York wegziehen. Doch an jenem Abend, als sie mit Lou stritt und zu viel Champagner trank, wusste sie schon, dass das nicht passieren würde. Am nächsten Morgen rief sie mit trockenem Mund und einem flauen Gefühl im Magen Alex an.
    Dieses Hin und Her wäre vielleicht ewig so weitergegangen, hätte das neue Jahrtausend nicht einige Überraschungen, einige davon persönlicher als andere, sowohl für Scarlet als auch für ihre Eltern mit sich gebracht. Was löste Addies erneute Rastlosigkeit aus? Eine gestohlene Präsidentschaftswahl? Eine drohende noch größere Umweltzerstörung, als sie und Tom sich hätten träumen lassen, als sie dreißig Jahre zuvor idealistisch ihre Prosodie der Vögel verfassten? Und schließlich der unvorhergesehene und vollkommen unvorstellbare Angriff auf das World Trade Center?
    All diese Dinge, sicherlich, aber dieses Mal war es Tom, der
sagte, sie sollten sich besser an die Arbeit machen. Da waren zum Beispiel die ganzen toten Krähen und Häher, die ihnen die Leute vor die Tür legten, da sie aus irgendeinem Grund zu dem Schluss gekommen waren, dass die verrückte Künstlerin und ihr Vogelliebhaber von Ehemann etwas gegen das plötzliche Auftreten dieser von Stechmücken übertragenen Seuche namens Westnilvirus sagen oder auch unternehmen müssten. Während die Überbringer der toten Tiere Gummihandschuhe und manchmal sogar Mundschutz trugen und die Vögel selbst in diverse Plastiktüten gewickelt waren, traf Addie keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen. Es gab keinen Grund, sich Sorgen um eine Infektion zu machen, wie sie meinte. Die Tiere waren aller Wahrscheinlichkeit nach nicht am Westnilfieber gestorben, sondern eher an einer Vergiftung durch den Pestizidteppich, der die Felder und Flüsse Pennsylvanias, New Jerseys und New Yorks überzog. Chemikalien wie Dursban, Diazinon, Parathion wurden eingesetzt, um Stechmücken zu töten, Stechmücken, die dann von Vögeln gefressen wurden, welche wiederum überall in den Ostküstenstaaten tot in die Gärten stürzten.
    Und so ging Addie wieder in ihrem Beinhaus an die Arbeit, still dieses Mal. Inzwischen war es Anfang 2001, und Addie verbrachte wie früher ihre Vormittage mit Tom im Feld und stopfte nachmittags eine nicht enden wollende Folge von Krähen aus (für die Häher, die Addie noch nie mochte, hatte sie keine Verwendung – nicht einmal tot). Die Krähen benutzte sie zum Teil für ihre letzte große Assemblage mit dem Titel Der Nil : ein Strom schwarzer Vögel, die durch einen kahlen weißen Raum fliegen. Es war ein erstaunlich schönes und bewegendes Werk, besonders später unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September. Und besonders für jene, die zu dem Zeitpunkt, als Der Nil in Addies New Yorker Galerie ausgestellt
wurde, schon wussten, dass sie wieder krank war, dass der Krebs sich in ihrem Unterleib ausbreitete und auf dem Weg in ihre Lungen war.
    Und was machte Tom? Zunächst einmal verbreitete er die Nachricht, dass er eines Morgens im Mai 2001 einen Pappelwaldsänger auf einer bewaldeten Hügelkette in der Nähe seines Hauses gesichtet habe. Nachdem seine Entdeckung einer so seltenen und prachtvollen Spezies im Burnham College kaum Beachtung fand, verhielt er sich im Anschluss

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