Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
Vom Netzwerk:
mehr.
    In jener Nacht türmte sie zusätzliche Decken auf ihr Bett, und Bobby klammerte sich wieder an sie, während sie schliefen. Zwei Tage lang wich Scarlet nicht von seiner Seite.
    Jetzt kann sie sich nicht erinnern, wie sie sich damals fühlte. Sie fragt sich, ob irgendjemand noch weiß, was er in jenen ersten Tagen empfand. Im Fernsehen sah sie Hollywood-Stars per Telefon Kommentare abgeben, eine merkwürdige Auswahl von Kongressabgeordneten »God Bless America« singen. Sie sprach mit Addie und Tom, die wollten, dass sie nach Hause nach Burnham kam. Und die ganze Zeit ließ sie Bobby nicht aus den Augen, der geduscht und rasiert war, aber immer noch fror.
    Hauptsächlich war sie in jenen Tagen verwirrt und besorgt. Sie versuchte, mit sanfter, beruhigender Stimme mit Bobby zu reden. Zusammen verließen sie die Wohnung für kurze Ausflüge, um einen Spaziergang im Park zu machen oder Brot oder Kaffee an der Ecke zu kaufen. Jeder, dem sie begegneten, sah so unwirklich aus, wie sie sich fühlten. Alle Leute grüßten einander, erkundigten sich nach dem anderen, betrachteten sich gegenseitig mit Anteilnahme. Kannten Sie Leute dort?
Geht es Ihnen gut? Geht es uns gut? Wird es noch einmal passieren?
    Die meisten seiner ehemaligen Kollegen seien mit Sicherheit tot, sagte Bobby. Als er die Freunde anrief, bei denen er gewohnt hatte, hob niemand ab.
    Wie besessen sahen sie beide fern, starrten mit leerem Blick Aufnahmen von Polizisten und Feuerwehrleuten an, vom Bürgermeister, dem Präsidenten, alle nur einhundert Blocks weiter südlich. Bobby telefonierte mehrmals mit Cora, versicherte ihr, dass alles in Ordnung sei, und bat sie, das auch Cynthia auszurichten. Keiner von ihnen erzählte seinen Eltern, dass sie zusammen waren.
    Am Samstag, fünf Tage, nachdem Bobby in Scarlets Wohnung gekommen war, ging Scarlet allein ein paar Stunden weg, um Lebensmittel einzukaufen und ein paar Dinge zu erledigen. Als sie zurückkam, hatte Bobby eine Flasche Wodka, die er im Eisschrank gefunden hatte, fast leergetrunken. Er war kein bedrohlicher Betrunkener, auch kein wütender. Einfach nur kalt und traurig. Wieder weinte und weinte er. An jenem Abend sahen sie beide schweigend fern, Tränen strömten ihnen über die Gesichter. Am Morgen war er vor ihr auf den Beinen und angezogen. Als Scarlet aus dem Zimmer kam, zog er vorsichtig die Haustür auf.
    »Wenn du dir Nachschub holen gehst«, sagte sie, »darfst du nicht hierher zurückkommen.« Sobald sie es ausgesprochen hatte, zog sich vor Angst ihr Magen zusammen. Meinte sie das ernst?
    So langsam und geräuschlos, wie er sie geöffnet hatte, schloss Bobby die Tür wieder. Dann blieb er eine Zeitlang völlig regungslos stehen, ehe er sich zu ihr umdrehte. »Ist gut.« Er nickte, aber mit gesenktem Kopf, um ihrem Blick auszuweichen. Und er machte die Tür auf und ging.

    Schlagartig kam ihr die Wohnung kalt vor, wie eine Höhle. Sie versuchte fernzusehen, konnte es aber nicht mehr ertragen, und sie hatte ein hohles Klingeln in den Ohren, das einfach nicht aufhören wollte. Ihr fiel ein, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie ihn erreichen konnte. Wüsste Cora es? Aber Cora konnte sie nicht anrufen und fragen. Müsste sie sämtliche Kneipen der Nachbarschaft nach ihm absuchen, wie eine vernachlässigte Ehefrau in einem schlechten alten Film?
    Vier Stunden später klingelte es, und dann stand Bobby wieder dort vor ihrer Tür. Er hatte Blumen im Arm – drei dicke Sträuße tiefblauer Orchideen. Und in diesem Moment, mit dem lockigen Haar, das über den Kragen seines Flanellhemds fiel, sah er wieder aus wie damals mit sechzehn. Als er am Strand einen Marienkäfer auf Scarlets Bauch beobachtet und seinen Weg mit dem Finger verfolgt hatte. Als er sie zärtlich geküsst und sie so sanft geliebt hatte, dort auf dem Fußboden des mit Brettern vernagelten alten Diner.
    Er hatte immer noch denselben gequälten Blick. Und plötzlich, während er dort stand und Scarlet dabei betrachtete, wie sie ihn betrachtete, kehrten all ihre Erinnerungen an Cider Cove, an Bobby und Richard und Cora, an Addie und Tom zurück. Auf einmal schien es, als hätten diese vergangenen Tage, in denen sie sich in dieser dämmrigen Wohnung vergraben und verzweifelt aneinander festgeklammert hatten, einen Sinn gehabt. Und nun waren sie vorbei. Irgendwo hatte irgendjemand irgendwie einen Vorhang zurückgezogen oder die Fensterläden aufgestoßen.
    »Ich wusste nicht, welche Blumen ich nehmen soll«, sagte er. »Ich weiß ja

Weitere Kostenlose Bücher